Kategorie: Deutschland

Berliner Chaostage und die Krise der politischen Herrschaft

Vor gar nicht allzu langer Zeit galt Deutschland als europäischer Musterknabe mit stabilen politischen Verhältnissen.


Oberflächlich betrachtet schien in der stärksten Wirtschaftsmacht Europas mit hohem Wirtschaftswachstum, sinkender Arbeitslosigkeit, breitem politischem Konsens und glücklichen Menschen alles in bester Ordnung zu sein. Doch der Schein trügt, wie die jüngste Regierungskrise zeigt.

Der Berliner Chaostage sind ein Hinweis auf eine tiefe Krise der politischen Herrschaft, die tiefere Ursachen hat. Diese hochsommerliche Krise gleich nach dem WM-Aus für die deutsche Fußballmannschaft zeigt, dass die weltweite Destabilisierung der politischen Szene längst auch Deutschland erfasst hat. Zuerst dauerte es nach der Bundestagswahl 2017 fast ein halbes Jahr, bis die neue Bundesregierung stand. Über solche Zustände in Belgien oder Italien hatten viele bisher gespottet. Und dann vergingen keine 100 Tage unter dem neuen Kabinett Merkel 4, bis der Zoff zwischen den “Schwestern“ CDU und CSU ein abruptes Ende der erst vor 100 Tagen gebildeten Koalition aus Union und SPD in greifbare Nähe rückte.

Die Krise ging von Bundesinnenminister und CSU-Chef Horst Seehofer aus, der lautstark und ultimativ eine härtere Politik gegenüber Flüchtlingen und eine direkte Zurückweisung von ankommenden Flüchtlingen an der bayerischen Grenze forderte. Demgegenüber beharrte die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende Angela Merkel auf einer „europäischen Lösung“ im Rahmen der EU. Auf Seehofers Drohung mit einem Alleingang reagierte Merkel mit dem Hinweis auf ihre grundgesetzliche Richtlinienkompetenz. Ein Bruch der Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU drohte.

Auffällig an diesen Chaostagen ist das Verhältnis zwischen der herrschenden Klasse und ihren politischen Vertretern. CDU und CSU sind seit den 1940er Jahren die wichtigsten Parteien des deutschen Kapitals und willige Vollstrecker von Kapitalinteressen. Als bürgerliche Parteien mit Massenanhang im Kleinbürgertum und politisch rückständigen Teilen der Arbeiterklasse haben sie seit 1949 entscheidend die Bundesrepublik geprägt. In 49 von 69 Jahren gaben die Unionsparteien in Regierungen den Ton an. Auch wenn die CDU mal im Norden, Westen oder Osten schwächelte, machten Wahlerfolge der CSU in Bayern die Unionsfraktion bis auf 1972 und 1998 stets zur stärksten Kraft im Bundestag.

Kapital kritisiert Seehofer

Die Verflechtung der Union mit den Lobbyverbänden des Kapitals ist groß. Dies zeigen auch Berichte über Parteispenden. So bezog allein die CSU nach Angaben von LobbyControl von 2011 bis 2015 von den zehn größten Spendern aus der Wirtschaft insgesamt fast drei Millionen Euro. Bei der großen Schwester CDU waren es über 5,5 Millionen Euro. Besonders spendabel waren der Verband der Bayerischen Metall- und Elektroindustrie, BMW, Daimler und Allianz. Umso bemerkenswerter war die große Unzufriedenheit der Spitzenverbände des Kapitals mit dem Zwist zwischen den Unionsparteien. „Was wir jetzt brauchen, ist eine stabile und entschlossene Regierung, die konstruktiv, lösungsorientiert und besonnen mit ihren europäischen Partnern zusammenarbeitet“, heißt es in einem gemeinsamen Appell der Dachverbände BDI, BDA, DIHK und ZDH an CDU und CSU. „Die deutsche Wirtschaft ist überzeugt, dass nationale Alleingänge mehr Schaden als Nutzen anrichten.“ Die wirtschaftliche Bedeutung Europas für Deutschland sei enorm, geben die Chefetagen der Wirtschaft zu bedenken.

Hinter dieser Mahnung steckt die Einsicht, dass der Bestand der Europäischen Union (EU) als wichtigster Absatzmarkt für deutsche Industrie- und Agrarprodukte und Quelle billiger osteuropäischer Arbeitskräfte eine Überlebensfrage für das deutsche Kapital darstellt und der Zwist zwischen CDU und CSU vor allem auch die europaweit tonangebende Kanzlerin international als „lahme Ente“ erscheinen lässt. „Die parteipolitischen Streitigkeiten schaden dem Ansehen Deutschlands. Sie schwächen uns auf europäischer sowie internationaler Bühne – und das in einer wirtschaftlich herausfordernden Situation“, so die Mahnung der Wirtschaftsverbände.

Bayernwahl

Doch was hat die CSU-Führung dazu verführt, in diesen Hochsommertagen so „auf den Putz zu hauen“ und die Mahnungen ihrer Geldgeber und Lobbyverbände zu missachten? Eine Antwort gibt der Blick auf den Kalender. Am 14. Oktober 2018 wird in Bayern ein neuer Landtag gewählt und die CSU muss mit einem Rückschlag und dem Verlust ihrer absoluten Sitzmehrheit rechnen. Seit 1962 hatte sie bei Landtagswahlen fast kontinuierlich stets eine absolute Landtagsmehrheit errungen. Sie hat unzählige Posten im Politbetrieb, im Verwaltungsapparat und in landeseigenen Betrieben und Einrichtungen zu vergeben. Einziger Ausrutscher in dieser Erfolgsserie war der Verlust der absoluten Mehrheit 2008, als sie mit nur noch 43,4 Prozent eine Wahlperiode lang auf eine Koalition mit der FDP angewiesen war. Dieses Trauma wirkt nach. Einen erdrutschartigen Einbruch brachte die Bundestagswahl 2017, als die CSU bayernweit auf 38,8 Prozent absackte. Die Angst, dass sie am 14. Oktober ebenso unter der Messlatte von 40 Prozent bleiben könnte und die Rechtspartei AfD ihr massenhaft Wähler abspenstig macht, steckt den CSU-Führern offenbar in den Gliedern. Schließlich hat die AfD schon bei der Bundestagswahl in Bayern 12,4 Prozent errungen und könnte auch im Oktober zweistellig abschneiden. 

Daher kennt die CSU-Spitze um Seehofer, Söder, Scheuer und Dobrindt nur eine Logik: Sie versuchen verzweifelt, durch einen Rechtsruck und ein Nachplappern der rassistischen AfD das Wasser abzugraben und diese quasi überflüssig zu machen. Doch diese Rechnung dürfte nicht aufgehen. Der Unions-Zwist in der Flüchtlingspolitik wirkte als unverhofftes Geschenk für die Rechtsaußenpartei. Insofern ist die CSU nicht der Totengräber, sondern eher Aufbauhelfer der AfD. Manche CSU-Hardliner hatten zudem gehofft, dass in der CDU eine größere Zahl von Merkel-Gegnern aufmucken würde. Doch auch diese Rechnung ging nicht auf. Im CDU-Vorstand wurde Merkels Position bei nur einer Enthaltung gebilligt.

Sündenböcke und Ablenkung

Dass ausgerechnet zu einer Zeit, da die Zuwanderung auf dem tiefsten Stand seit Jahren angelangt ist, die Flüchtlingsfrage zu einer Schicksalsfrage für Bayern und den Rest der Republik hochstilisiert wurde und alle wirklich drängenden Probleme der arbeitenden Bevölkerung medial völlig ausgeblendet wurden, hat Methode. Es geht um Sündenböcke und Ablenkung. Denn trotz statistisch niedriger Arbeitslosenzahlen ist Bayern keine heile CSU-Welt. Unter den westlichen Bundesländern bildet der Freistaat das Schlusslicht bei der Tarifbindung. Hier arbeiten laut Hans-Böckler-Stiftung nur 53 Prozent aller Beschäftigten in Betrieben mit Tarifbindung. Dies lässt ahnen, dass Millionen Menschen unterhalb tariflicher Löhne und Arbeitsbedingungen bleiben und viele heute schlechter leben als vor 20 Jahren. Armutsrenten und Pflegenotstand machen auch um Bayern keinen Bogen. In Metropolen wie München und Nürnberg ist erschwinglicher Wohnraum zunehmend zum Luxus geworden. Zu den dynamischsten Wachstumsbranchen im Freistaat gehören die mittlerweile 148 Tafeln - von Abensberg bis Zorneding. Ministerpräsident Söder hat in seiner Zeit als Finanzminister die Privatisierung von Sozialwohnungen betrieben. Im ländlichen Bayern hat der Druck auf bäuerliche Kleinbetriebe viele Landwirte längst zu Arbeitern gemacht. Die bayerische Industrie steht und fällt mit den Exporten und ist daher anfällig für Handelskriege und Weltwirtschaftskrisen. Das kürzlich vom Landtag verabschiedete neue Polizeiaufgabengesetz lässt ahnen, dass die Herrschenden und Regierenden angesichts unsicherer Zukunftsaussichten ihren Staatsapparat gegen den „inneren Feind“ aufrüsten. Was ist angesichts solcher Perspektiven aus CSU-Sicht naheliegender als die Masse der Bevölkerung von Alltagsproblemen abzulenken und ihre Wut auf die Schwächsten der Gesellschaft zu lenken: Flüchtlinge aus Afrika und Asien, die aus Verzweiflung und unter Einsatz ihres Lebens in dieses Land gekommen sind.

Bei genauerer Betrachtung des Konflikts und der jüngsten Einigung zwischen den drei Koalitionsparteien geht es nicht einmal um grundsätzliche Differenzen. Letztlich verkörperte Merkel die „Festung Europa“ und Seehofer die „Festung Bayern“ und ihren Ausbau als „Frontstaat“ gegenüber dem Südosten Europas. Nach Tauziehen, Nervenkrieg und Poker um Wege der Abschottung und Abschiebung war man sich denn auch wieder einig. Wie stabil und nachhaltig diese Einigung ist, bleibt abzuwarten. Dass weiterhin Tag für Tag Menschen im Mittelmeer ertrinken, die mit wenig Aufwand gerettet und in Europa in Sicherheit sein könnten, nehmen die verantwortlichen Politakteure billigend in Kauf. Allein am 2. Juli wurden 113 Tote im Mittelmeer registriert. Statt Bekämpfung der Fluchtursachen ist die rigorose Bekämpfung der Flüchtlinge oberstes Ziel der etablierten Parteien. Dass die SPD diesem Deal über die Asylrechtsverschärfungen und damit einem weiteren Rechtsruck der Regierungspolitik zugestimmt hat, sollte nicht verwundern. Schließlich klebt ihre Führung nach einem aufreibenden parteiinternen Kampf um den Eintritt in die Regierung Merkel an ihren Posten und fürchtet Neuwahlen wie der Teufel das Weihwasser.

Die AfD kann sich vorläufig die Hände reiben, weil das Regierungslager ihr zynisches Spiel der Ablenkung von den realen Problemen der Menschen in diesem Lande mitmacht und ihr Vokabular aufgreift. Die Rechten sollten sich aber nicht zu früh freuen. Sie können ihre unsoziale Politik auf Dauer nicht verstecken – auch nicht den ernstgemeinten Vorstoß ihres Vorsitzenden Jörg Meuthen, der die gesetzliche Rentenversicherung komplett abschaffen und die Altersversorgung privatisieren möchte. In Österreich haben viele Arbeiter in ihrer Verzweiflung vor einem Jahr die rechte FPÖ gewählt. Jetzt erlebte das Land mit einer Massendemo von 120.000 Gewerkschaftern gegen die arbeiterfeindliche Politik der FPÖ und den 12-Stunden-Tag ein Wiederaufleben des Klassenkampfes.

Fluchtursachen und Verantwortliche bekämpfen

Statt Menschen zu bekämpfen, die vor Krieg, Hunger, Elend, Umweltkatastrophen und Unterdrückung fliehen und mit ihrer Hände Arbeit sich und ihre Familien ernähren wollen, brauchen wir eine revolutionäre, globale und internationalistische Bekämpfung der Fluchtursachen und einen radikalen Wechsel in der Außenpolitik. Dabei steht der Hauptfeind im eigenen Land. Dazu gehören alle in Wirtschaft und Politik, die Kriege oder Stellvertreterkriege vom Zaun gebrochen haben, die Länder Afrikas und Asiens ausplündern und somit zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen in aller Welt beitragen. Dazu gehören deutsche Rüstungskonzerne, die von Kriegen und Rüstungsexporten profitieren. Dazu gehören Konzerne, die in alle Welt Billigfleisch und Milchpulver exportieren, die bäuerliche Landwirtschaft in Afrika zerstören, Monostrukturen erzwingen und mitten in Deutschland osteuropäische Arbeiter wie Sklaven ausbeuten. Dazu gehört der Nestlé-Konzern, der auf der Jagd nach 18,5 Prozent Rendite den Menschen in Afrika und auch in Teilen Europas buchstäblich das Wasser abgräbt und jetzt in seinen deutschen Werken massiv Löhne drücken und Arbeitsplätze zerstören will.

Wenden wir das Verursacherprinzip an: Wer direkt oder indirekt für Flüchtlingsbewegungen verantwortlich ist, der soll für ihre Folgen und eine menschenwürdige Aufnahme der Geflüchteten in Deutschland zahlen. Steuerflüchtlinge beschummeln die öffentlichen Kassen Jahr für Jahr um rund 100 Milliarden Euro. Wer sich so gegen das Interesse der Allgemeinheit stellt, gehört enteignet. Und angesichts des anhaltenden Versagens der SPD, die laut Umfragen in Bayern mit 13 Prozent derzeit gleichauf mit den Grünen und noch hinter der AfD liegt, hat die LINKE eine große Verantwortung. Sie muss nicht „bayrischer“, sondern radikaler werden und nicht als zahmes reformistisches Korrektiv im Kapitalismus, sondern als konsequente antikapitalistische Systemalternative auftreten.

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