Kategorie: Europa

Frankreich: Blanke Gewalt und leere Worte gegen Volkszorn

In Frankreich brechen die Mobilisierungen der Gilets jaunes (Gelbwesten) nicht ab. Präsident Emmanuel Macron versucht mit einer nationalen Debatte Druck abzubauen. Doch das wird nicht reichen als Ventil. Nur ein entschiedenes Vorgehen der Linken kann das Problem lösen.


Laut der Facebookseite «Le nombre jaune», deren einziger Zweck das Zählen der Gilets jaunes ist, nahmen am neunten Mobilisierungstag vom 12. Januar 159.157 Menschen teil. Der regierungsnahe Fernsehsender BFMTV sprach von nur 84.000. Das hätte einem Verhältnis von 1:1 gegenüber den mobilisierten Polizeieinheiten entsprochen.

Damit sind schon drei wichtige Punkte zu dieser Bewegung genannt, die Frankreich erschüttert: die massive Repression – es gab schon Todesopfer und hunderte Schwerverletzte –, die Falschinformationen über die bürgerlichen Massenmedien und die anhaltende Mobilisierungskraft der Gilets jaunes.

Ein vierter wichtiger Punkt sind die politischen Forderungen respektive die lächerlichen Lösungsvorschläge der Regierung. Wir hatten in früheren Artikeln bereits gesagt, dass die Gilets jaunes bisher als einzige fähig waren, Macrons Regierung zu Zugeständnissen zu zwingen. Eine monatelange Streikbewegung der Eisenbahner erreichte das ebenso wenig wie die Protestaktionen der Studierenden. Die Rücknahme der geplanten Benzinsteuer und die Erhöhung des Mindestlohns sind wichtige Meilensteine, auch wenn die reelle Auswirkung gering ist. Trotzdem ist Macrons Rückzieher ein Fakt, der im Gedächtnis der französischen Arbeiterklasse bleibt.

Republikanische Diktatur

Nach einem kurzen Abflauen über die Weihnachtsferien – wohlgemerkt: die Demos stoppten nicht, sondern wurden mit 70.000 am 29. Dezember nur kleiner – findet nun wieder eine Stärkung der Bewegung statt. Vor allem in den großen Städten Paris, Lille, Toulouse, Bordeaux, Lyon und Marseille sind die Samstage der Gilets jaunes schon fast zur Gewohnheit geworden. Aber auch kleinere Orte mussten sich an Demos von über tausend Personen gewöhnen.

Der Regierung sind schon lange die Antworten ausgegangen. Das einzige Mittel, das Premierminister Philippe bleibt, ist die blanke Gewalt des französischen Polizeistaates. Dabei lässt er Panzerfahrzeuge auffahren und am 12. Januar waren zum ersten Mal auch Polizisten mit automatischen Gewehren im Einsatz. Die Polizei macht bereitwillig Gebrauch von ihrer «Flashball»-Waffe sowie ihren Schlagstöcken. Damit verletzte sie schon hunderte Demonstranten. Begleitend schöpft die Justiz das Arsenal an autoritären Gesetzesartikeln nach vollen Kräften aus. Bekannte Persönlichkeiten werden schwer sanktioniert. Das soll andere abschrecken.

Jeden Samstag von neuem

Fast jeder Samstag fördert eine neue Geschichte zutage, die dann Frankreich beschäftigt und heftig in den Medien sowie in den sozialen Netzwerken diskutiert wird. Nach dem 5. Januar war es der ehemalige Boxmeister Christophe Dettinger. In Verteidigung einer Demonstrantin, die von der Bereitschaftspolizei CRS zusammengeschlagen wurde, griff er heroisch ein und ließ seine Fäuste gegen Helme fliegen. Nachdem er sich bei der Polizei stellte, wurde rasch klar, dass er eine harte Strafe erhalten würde. Ein Polizist und Ehrenlegionär aus Toulon, der ebenfalls Ex-Boxer ist, wurde am gleichen Tag ebenfalls gefilmt, wie er einen Demonstranten boxte. Viel zu fürchten hat er nicht.

Keine Illusionen in den Staat

Viele Gilets jaunes erheben Anklage gegen die Polizeigewalt. Doch der bürgerliche Staat schützt seinen bewaffneten Arm. Er wird seine Schergen von der CRS-Polizei nicht zurückpfeifen. Die Bewegung steht unter enormem Druck, ihre Lektionen rasch zu lernen. Eine der wichtigsten ist die Notwendigkeit zur Selbstorganisation. Für den Boxer Christophe Dettinger wurde eine Spendensammlung eingerichtet, um seine Gerichtskosten zu bezahlen. Diese stand nach wenigen Stunden bei über 100.000 Euro. Allerdings wurde sie auf der Crowdfunding-Plattform einer Bank geführt. Das erleichterte dem Staat, das Geld kurzerhand zu beschlagnahmen. Solange man auf dem Terrain der Kapitalisten und ihrem Staat spielt, ist man auch ihrer Willkür ausgesetzt. Eine schmerzhafte Lehrstunde!

Eine ähnliche Situation stellt sich bezüglich der Berichterstattung und Verbreitung von Informationen. Die Gilets jaunes haben keine Illusionen, auf wessen Seite die Medien stehen. Die großen Fernsehsender und Zeitungen werden fast durchweg mit dem Regime Macron assoziiert. Das führte teils gar zu tätlichen Angriffen auf Journalisten. Letztlich liegt jedoch eine große Kluft zwischen dem Erkennen, dass man mit einer feindlichen Medienmacht konfrontiert ist und der zielgerichteten Entwicklung einer Bewegung. Die Notwendigkeit, dass die Verbreitung ihrer Ideen und Positionen eigene Medien erfordert, erkannten die Gilets jaunes bisher nicht: Das meiste läuft über Facebook.

Macrons Scheindebatte

Trotz aller Defizite der Gilets jaunes führten sie die gravierendste Regierungskrise seit 1995 herbei. 1997 musste Präsident Chirac aufgrund einer langen Streikbewegung das Parlament auflösen und Neuwahlen ansetzen. Es gibt auch heute eine Zahl an Chefredakteuren bürgerlicher Zeitungen mit guten Verbindungen in die Welt der Patrons, die einen solchen Schritt fordern.
Vergegenwärtigen wir uns nochmals kurz die wichtigsten Fakten: Erst mussten Macron und Philippe von ihrer Linie des Nichtnachgebens abweichen und teilweise zurückrudern. Nun sehen sie sich mit einer Bewegung konfrontiert, die nicht totzukriegen ist. Am 14. Januar schrieb Macron einen Brief an die 66 Millionen französischen Staatsbürgerinnen und Staatsbrüger. Damit eröffnete er eine sogenannte «nationale Debatte», welche zur Lösung der Krise beitragen soll. Er schreibt einleitend, dass es keine verbotenen Themen gibt. Doch die Wiedereinführung der Vermögenssteuer ISF räumte er klar aus. Entsprechend sagten laut Umfragen über 70%, dass sie von dieser Debatte nichts erwarten und folglich nicht im Sinn haben teilzunehmen. Den ganzen Schein einer demokratischen Angelegenheit hatte Macron denn auch im Vorhinein ausgeräumt: Die Debatte ist eine rein konsultative Angelegenheit. Es handelt sich nicht um ein Referendum!

"RIC"

Damit trifft er einen sensiblen Nerv vieler, die eine gelbe Weste tragen: Die französische Verfassung ist extrem undemokratisch und wird oft als präsidentielle Monarchie bezeichnet. Deshalb entwickelte sich die Einführung eines Referendumsrecht (kurz «RIC») zu einer der zentralen Forderungen. Obwohl Referenden ihre Grenzen haben, muss man sich deren politisches Potenzial bewusst machen.

Die französischen Kapitalisten können es sich nicht leisten, das Reformtempo zu verlangsamen. Referenden sind trotz allen Schwächen immer ein Bremshebel. Folglich könnte ein Referendumsrecht schwerwiegende Auswirkungen für die herrschende Klasse haben. Diese wäre dann gezwungen, den Referenden auszuweichen, um ihre Angriffe durchzusetzen.

Regimekrise vertiefen

Frankreichs Wirtschaft dürstet nach Liberalisierung. Macron erhielt von der französischen herrschenden Klasse den klaren Auftrag, ein tiefgreifendes Zurückdrängen des Sozialstaates und sozialer Errungenschaften durchzuführen. Schafft er das nicht, erschöpft sich sein Nutzen für die Herrschenden. Um genau diesen Punkt dreht sich die Frage der Auflösung des Parlaments. Die bürgerliche Kalkulation setzt darauf, dass so neue Legitimität gewonnen würde für das strenge Reformprogramm. Unklar ist, auf welches Pferd dafür gesetzt würde. Am wahrscheinlichsten wäre eine rechte Allianz aus den Republikanern und dem Rassemblement national (ex-FN) von Le Pen. Brisant: Die Option der Neuwahlen wird nur von Bürgerlichen ernsthaft diskutiert.

Eigentlich hätte die Linke, allen voran Mélenchons France insoumise (Unbeugsames Frankreich), viel mehr zu gewinnen in einer Neuwahl. Denn die bürgerliche Mehrheit in der Nationalversammlung hat sich in 18 Monaten diskreditiert. Sie sieht sich mit dem geballten Zorn der Gilets jaunes und vieler Nichtwählerinnen und Nichtwählern konfrontiert. Doch von links wird die Auflösung des Parlaments nicht wirklich gefordert. In dieser Situation müssen in den Filialen der Arbeiterbewegung die Alarmglocken läuten. Wenn die Zentrale der bürgerlichen Macht in Flammen steht, dann zögert man nicht, sondern greift zum Brandbeschleuniger.

Bremsklotz Martinez, CGT

Die Krise ist im Moment «nur» politisch: höchste Zeit, dass der Kampf auch ökonomisch – sprich in den Betrieben – aufgenommen wird. Eine Streikbewegung kann ein Land zum Erliegen bringen und übt damit weit mehr Druck aus als reine Demonstrationen. Eine solche Ausbreitung ist dringend notwendig und durchaus möglich. Doch sie muss bewusst an die Hand genommen werden.

Wir betonen die Rolle der Gewerkschaften, weil sie über die Strukturen und Kanäle verfügen, um den Gilets jaunes auf einen Schlag eine völlig neue Qualität zu geben. Doch diese Einsicht muss die Basis der größten linken Gewerkschaft noch durchdringen.

Sehr positive Zeichen wurden allerdings schon gegeben: In Toulouse und Lille verabschiedeten Versammlungen der Gilets jaunes Aufrufe an die CGT, die wichtigste linke Gewerkschaft, einen Generalstreik zu organisieren. Das gleiche hatten bereits im Dezember mehrere Fakultätsversammlungen in den Universitäten im Süden getan. Dass die Gilets jaunes von sich aus noch viel stärker auf die CGT zugehen, ist unwahrscheinlich.

Doch nicht umsonst schrieb die bürgerliche Zeitung Figaro, das Fehlen der CGT an der Spitze der Gilets jaunes sei die eigentliche Krise. Denn die Führung der CGT wusste noch immer die Wut der Arbeiterklasse in bürgerliche Bahnen zu kanalisieren. Auch heute ist die Zentrale der CGT um den Führer Philippe Martinez der eigentliche Flaschenhals für die Vorbereitung einer revolutionären Krise. Während der ersten zwei Wochen des neuen Jahres trat Martinez kein einziges Mal an die Öffentlichkeit und die CGT verhielt sich völlig passiv.

Generalstreik organisieren!

Reformistische Gewerkschaften – damit meinen wir in erster Linie die Führung sowie die Bürokratie – haben ein spezielles Verhältnis zum Kapital. Sie übernehmen quasi die Rolle des Ordnungshüters, der sowohl mit den Lohnabhängigen, dem Staat wie mit den Kapitalisten in ständigem Kontakt steht. Von dieser Rolle profitiert die Führung der Gewerkschaften materiell. Das bringt mit sich, dass sie den Klassenkampf – von oben und unten – dämpfen. Heute versuchen sie, sich aus der Affäre zu ziehen und weisen jegliche Verantwortung von sich, denn sie fürchten den Verlust ebendieser Privilegien.

Wenn sich in kurzer Zeit so viel Klassenhass entlädt, ist der Ausgang alles andere als gewiss. Wenn die organisierte Arbeiterbewegung die Gilets jaunes hinhält und verrät, können die Reaktionen auch in eine andere Richtung gehen. Aber im Moment suchen sie klar links nach Orientierung. Viele Basisaktivistinnen und Basisaktivisten der Gewerkschaftsbewegung demonstrieren mit den Gilets jaunes.

Kein Zurück!

Die Aufgabe von Revolutionären ist es nicht an der Seitenlinie zu stehen. Einer Bewegung eine revolutionäre Führung zu geben heißt, in dieser Situation die Notwendigkeit des Generalstreiks konkret zu erklären. Damit werden die Reihen geschlossen zwischen den Gilets jaunes und der organisierten Arbeiterbewegung! Diese Notwendigkeit vermitteln die Genossinnen und Genossen der Internationalen Marxistischen Strömung (IMT) überall da, wo sie präsent sind.

Der französische Kapitalismus, und mit ihm seine autoritären Staatsmänner um Emmanuel Macron, sind in einer veritablen Sackgasse. Was die französischen Lohnabhängigen in den letzten drei Monaten erlebt und gelernt haben, bleibt in ihrem Gedächtnis. Wir können sicher sein: Macrons Scheindebatte wird zu einer weiteren Politisierung Frankreichs führen. Die Gilets jaunes werden damit nicht besiegt werden. Dennoch: Bewegungen halten sich nicht ewig aufrecht. Aber egal ob in gelben Westen oder ob sich spätere Bewegungen ein neues Symbol geben, die Gilets jaunes haben eine neue Ausgangslage für den Klassenkampf in Frankreich geschaffen. Macrons Reformprogramm für das französische Kapital hat Schiffbruch erlitten. Es wird nur mit Schwierigkeiten wieder Tritt finden. Denn gegen jeden neuen Angriff wird sich erbitterter Widerstand regen. Die Gilets jaunes haben es gezeigt, kämpfen lohnt sich!

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