Kategorie: Theorie

Marxismus oder Anarchismus

Seit ihren Anfangen war die Arbeiterbewegung begleitet von der Entwicklung verschiedenster Doktrinen und Ideologien, die versuchten, dem Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung eine Orientierung zu geben. Aus dem breiten Spektrum an Theorien und Tendenzen, die es Mitte des 19. Jahrhunderts gab, konnten nur der Marxismus und der Anarchismus auf internationaler Ebene wirklichen Masseneinfluss erlangen.




Der Anarchismus strahlt eine besonderer Anziehungskraft aus, wobei vor allem Jugendliche, die sich auf der Linken politisch betätigen (wollen), sich von der Theorie angezogen fühlen. In der Praxis drückt sich dies auf eine Ablehnung von Organisationsstrukturen per se und in einer Hinwendung zu Randgruppen und „Minderheiten" aus, wobei die organisierte Arbeiterbewegung oft sogar als reaktionär betrachtet wird. Oft werden gewählte VertreterInnen mit Verantwortungen aus Prinzip abgelehnt. Vor allem viele Schüler bevorzugen spontane Aktionen und lockere Organisationsformen. Großer Beliebtheit erfreut sich dabei die autonome Jugendszene mit einer Mischung aus Kultur und „alternativer" Politikformen.

Ursprung des Anarchismus

Das Wort 'Anarchie' kommt aus dem Griechischen und bedeutet „ohne Herrschaft". Die ersten Vertreter dieser politischen Richtung waren Stirner in Deutschland und Proudhon in Frankreich, wobei der Anarchismus als Strömung in der Arbeiterbewegung erst in den 1870er Jahren unter der Führung des russischen Revolutionärs Bakunin eine größere Verbreitung erreichte. Andere Theoretiker und Führer der anarchistischen Bewegung waren die Anarchokommunisten Kropotkin und Malatesta zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Die beiden wichtigsten Aspekte der anarchistischen Gedankenwelt sind: Kritik an der kapitalistischen Ausbeutung und die radikale Ablehnung jeder Art von Herrschaft. Die persönliche Freiheit hat absoluten Vorrang, nicht zuletzt deshalb war der Anarchismus nie eine einheitliche Ideologie, sondern bestand aus einer Vielzahl von verschiedenen Tendenzen. Wir können daher den individualistischen Anarchismus eines Proudhon, der auch das kapitalistische Privateigentum akzeptierte, vom Anarchokommunismus, der die Abschaffung des Privateigentums fordert, unterscheiden. Das Endziel des Anarchismus ist nach Malatesta: „die Regierungen ausweisen, das Eigentum abschaffen und die öffentlichen Dienstleistungen der spontanen, freien, nicht offiziellen, nicht autoritären Arbeit, all jenen, die ein Interesse haben etwas zu machen, anzuvertrauen" (aus: „Die Anarchie").

Der Anarchismus, mit seinem Individualismus und seiner Achtung der persönlichen Freiheit, spiegelt im Wesentlichen den Protest jenes Teils des Kleinbürgertums wider, der durch die Entwicklung der großen kapitalistischen Produktion in den Ruin getrieben wurde. Der kleine Unternehmer oder der Freiberufler erkennt aufgrund seiner Stellung in der Gesellschaft und seiner individuellen Arbeitsformen nicht eindeutig den Klassenfeind. Er sieht sich jedoch durch den bürgerlichen Staat, der mit seinen Gesetzen immer mehr die großen Kapitalisten, den Großhändler oder den Großgrundbesitzer beschützt, erdrückt. Der Staat ruiniert durch immer höhere Steuern seine Existenz. Daraus resultiert die Ablehnung des Staates, das Nichtakzeptieren jeder Art von Zentralisierung und das Beharren auf absolute Autonomie. Der Arbeiter hingegen, der in den großen Fabriken gemeinsam mit vielen anderen ArbeiterInnen arbeitet, sieht im Kapitalisten die Ursache all seiner Probleme. Dieser senkt seinen Lohn, beutet ihn aus und entlässt ihn. Um sich zu verteidigen, ist er auf die größtmögliche Einheit mit seinen Arbeitskollegen und -kolleginnen angewiesen. Deshalb ist es für ihn natürlich, dass er eine kollektive und anti-individualistische Mentalität entwickelt.

Der Anarchismus spiegelt die ersten Etappen der Herausbildung der Arbeiterbewegung wider, in einer Zeit, als aufgrund des Gewichts des kleinen Besitzes in der Wirtschaft die Arbeiterklasse noch nicht reif genug war. Es ist kein Zufall, dass die anarchistischen Ideen gerade in Ländern wie Russland, Italien und vor allem Spanien eine Massenbasis hatten, in Ländern also, wo das Kleinbürgertum und die Bauernschaft vorherrschten und wo das Industrieproletariat bis zum Ende des letzten Jahrhunderts noch unbedeutend blieb.

Proletarische Moral und Humanismus?

Im Endziel stimmt der Marxismus mit dem Anarchismus überein, d.h. in der Notwendigkeit, den bürgerlichen Staat zu zerschlagen und eine Gesellschaft ohne Klassen und ohne Staat aufzubauen. Trotzdem gibt es zwischen Marxismus und Anarchismus tiefe und unversöhnliche Unterschiede. So schrieb Kropotkin: „Wer die Gesetze macht, d.h. die Regierung, nutzte die sozialen Gefühle des Menschen, um die der Minderheit von Ausbeutern gefälligen Prinzipien, gegen die sich die Menschen sicherlich aufgelehnt hätten, zu verbinden mit den Vorschriften, die der Mensch schon akzeptierte."

Wie man sieht, wird der Anarchismus als Konzept einer moralischen Ordnung präsentiert, die sich an alle Menschen ohne Ausnahme und nicht nur an die Arbeiter richtet. Er bekämpft die Kapitalisten, weil er die soziale Ungleichheit als Konsequenz der Bösartigkeit der Menschen betrachtet. Logisch, dass das Beharren auf die individuelle Aktion den Anarchismus oft in die Nähe des individuellen Terrorismus brachte, was sogar zu „Exekutionen" von Kapitalisten und hohen Vertretern des Staatsapparates führte, ohne zu verstehen, dass nur die revolutionäre Enteignung der Kapitalistenklasse durch das Proletariat der Ausbeutung ein Ende setzen könnte. Die marxistische Theorie vom Klassenkampf als Motor der Geschichte stützt sich auf die Widersprüche, die sich zwischen den verschiedenen Klassen in der menschlichen Gesellschaft unabhängig vom Willen der Menschen selbst entwickeln. Wie Marx sagte, „es ist nicht so wichtig, was die Menschen über ihre Handlungen denken, sondern ihre Handlungen selbst." Aus der Art der Produktionsverhältnisse und der Eigentumsverhältnisse in einer Gesellschaftsform ergibt sich das Entstehen verschiedener Klassen, die sich feindlich gegenüberstehen. Die Spaltung zwischen den Klassen führte außer zu einer ungeheuerlichen Ungerechtigkeit auch zu einer Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung. Wenn ein Produktionssystem (Sklavenhalter-, Feudalgesellschaft) die Wirtschaft nicht mehr weiterentwickelt, schlittert es in eine Krise und wird durch ein neues System ersetzt.

Die verschiedensten Produktionssysteme haben die Spaltung in Klassen aufrechterhalten. Dies wird sich nur durch die Zerschlagung des Kapitalismus lösen lassen, da dieses System eine ausgebeutete Klasse geschaffen hat (die Arbeiterklasse), die die große Mehrheit der Gesellschaft umfasst; indem sie sich selbst befreit, befreit sie die gesamte Gesellschaft.

Politikverdrossenheit und Arbeiterorganisationen

Das Ablehnen jeder politischen Aktivität in der Arbeiterklasse, wie es die AnarchistInnen machen, ist nicht nur absurd, sondern sogar völlig reaktionär. Die Bourgeoisie beherrscht die Lohnabhängigen nicht nur auf der wirtschaftlichen Ebene, wo sie Herrin über die Produktionsmittel und des Austausches ist, sondern auch viel allgemeiner in der Gesellschaft, durch die Polizei, die Gesetze, die Gefängnisse, das Parlament und letztendlich den bürgerlichen Staat. Diese politische Herrschaft stützt sich auf die wirtschaftliche Macht, die sie gleichzeitig mit aller Kraft verteidigt.

Die Arbeiterklasse wird nie ihre Befreiung in einer Fabrik nach der anderen, sondern nur kollektiv und gleichzeitig erkämpfen können. Wir werden die wirtschaftliche Herrschaft der Kapitalisten nur mit einer nationalen und internationalen Organisation der Arbeiterklasse und einem revolutionären, marxistischen Programm beseitigen können. Natürlich wird sich die Bourgeoisie nicht kampflos ergeben, sondern all ihre politische Macht gegen die Arbeiter einsetzen: wollen wir gewinnen, müssen wir die Herrn auf allen Ebenen, auch auf der politischen, bekämpfen. Die Arbeiter müssen sich organisieren, sich bilden, sich auf den Aufbau einer neuen Gesellschaft vorbereiten. Diesen Prozess kann man nur beschleunigen, indem man gegen die politischen Privilegien der Bourgeoisie auftritt. Auf diese Weise konnten unsere Vorfahren das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Versammlungs- und Vereinsfreiheit, das Recht auf eine staatliche Rente, usw. erkämpfen. Errungenschaften, die mehr politisch als wirtschaftlich waren und die Arbeiter für den Kampf für Sozialismus stärkten. Es genügt daher nicht, die Arbeiter nur in Gewerkschaften zu vereinen, sondern es bedarf auch einer Arbeiterpartei, die sich, unabhängig von den bürgerlichen Parteien (und sich anfangs nur aus den bewusstesten und fortschrittlichsten Teilen der Arbeiterklasse zusammensetzt), das Ziel setzt, die Mehrheit der Arbeiterklasse für die Erringung der politischen Macht zu organisieren.

Wenn wir in diesem Prozess die Möglichkeit erhalten, ins Parlament einzuziehen, werden wir dies dann ablehnen? Nein! Wir müssen das Parlament auf revolutionäre und nicht opportunistische Art und Weise nutzen. Parlament und Verfassung sind keine Lösung für unsere Probleme. Auch wenn wir keineswegs auf eine schrittweise, durch Reformen getragene Lösung unserer Probleme vertrauen, so bleibt das Parlament immer noch eine Tribüne, von der wir immer breiteren Schichten der Arbeiterklasse unsere Ideen näher bringen können, indem wir gleichzeitig die Grenzen der bürgerlichen Demokratie aufzeigen. Die Bosse sehen die Gefahr einer revolutionären Nutzung des Parlaments und versuchen daher, die Abgeordneten der Arbeiterparteien mit hohen Gehältern und anderen Privilegien zu kaufen. Deshalb müssen wir - analog dem Beispiel der Pariser Kommune - fordern, dass die Abgeordneten, die auf den Listen einer Arbeiterpartei gewählt wurden, jederzeit von ihren Wählern abwählbar sind und dass sie nicht mehr als einen durchschnittlichen Facharbeiterlohn verdienen. Somit können wir ein „Abheben“ der Abgeordneten verhindern.
Dabei muss man darauf hinweisen, dass der Anarchosyndikalismus gerade eine extreme Reaktion auf die opportunistische Wende eines großen Teils der Gewerkschaften und Parteien der Sozialistischen Internationale war.

Anarchisten contra Organisation

Indem der Anarchosyndikalismus die Organisierung der Arbeiter in einer eigenen Partei ablehnte, konzentrierte er all seine Hoffnungen auf den revolutionären Generalstreik. Angesichts der Tatsache, dass es in der bisherigen Geschichte kein Beispiel einer Revolution mittels eines „revolutionären Generalstreiks" gibt, zeigt sich, dass das Problem hier unzureichend und abstrakt behandelt wird. Eine revolutionäre Arbeiterpartei mit einem Masseneinfluss, die die Arbeiter organisiert, sie ausbildet, die Unterstützung oder zumindest die Neutralität eines Großteils der Mittelschichten gewinnt und die als Höhepunkt einer Phase der Agitation und der Selbstvorbereitung beim revolutionären Generalstreik anlangt, ist ganz einfach unerlässlich. Es ist kein Zufall, dass bisher die einzige erfolgreiche sozialistische Revolution, jene in Russland 1917 war, die von der bolschewistischen Partei angeführt wurde und sich auf die Ideen und das Programm des Marxismus stützte. Die Entartung der UdSSR war Ergebnis der Isolation der Revolution, hervorgerufen durch das Versagen der Führer der II. Internationale und die Rückständigkeit der Wirtschaft und der russischen Gesellschaft. Dies war die Basis für die Herausbildung einer bürokratischen Kaste, die das Proletariat politisch entmachtete; dies schmälert allerdings keinesfalls den Wert der russischen Revolution. Der Stalinismus war eine Reaktion gegen die Revolution und nicht ihre „natürliche" Fortsetzung. In der spanischen Revolution (1931- 37) hatte der Anarchismus seine einzige Chance in der Geschichte, seine Ideen zu verwirklichen. Die CNT war die größte Gewerkschaft des Landes und vereinigte die revolutionärsten Schichten des katalanischen und andalusischen Proletariats. Als aus Reaktion auf den versuchten Staatsstreich Francos im Juli 1936 die Macht in Katalonien in den Händen der CNT lag, unterstützte diese die bürgerliche Regierung.

Indem sie den Aufbau von proletarischen Machtorganen und die Zuendeführung der Revolution verweigerte, ermöglichte sie der Bourgeoisie langsam aber sicher, die revolutionären Errungenschaften der ersten Stunde abzubauen. Ein Jahr später wurden mit Garcia Oliver und Federica Montseny zwei der anarchistischen Führer Minister für Justiz und Gesundheit in der bürgerlichen Regierung der Republik Spanien. Durch das Unterschätzen des bürgerlichen Staates verzichtete man auf den Aufbau einer Alternative durch die Arbeiter.

Notwendigkeit eines Arbeiterstaates

Die AnarchistInnen vertreten die Meinung, es sei möglich, sofort nach der sozialen Revolution und der Enteignung der Kapitalisten mit dem Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft zu beginnen. Die Fabriken und das Land würden in die Hände der Arbeiterkollektive oder der Fachgewerkschaften übergehen. Somit wären die Produktionsmittel nicht Gemeineigentum aller Arbeiter. Die Anarchisten sind gegen jede Art der Zentralisierung der Produktivkräfte, weil sie glauben, dass dies zu einem Verlust der Autonomie der „freien Kommunen" führen würde, die nur auf der Basis freiwilliger Beziehungen ohne jegliche Einmischung von außen miteinander verbunden sind, führen würde. Der Marxismus erklärt, dass die soziale Revolution Ergebnis der Entwicklung der Produktivkräfte ist. In einem entwickelten Land, wo die Wirtschaft die nationalen Grenzen zersprengt, wäre es ein Rückschritt, die Grenzen, die die Bourgeoisie während ihrer Entwicklung beseitigte, wieder zu errichten. Schon unter dem Kapitalismus existiert eine Weltwirtschaft, und dies ist auch die Grundlage für eine Planung der Produktion auf internationaler Ebene. Durch das einmal abgeschaffte Privateigentum an Produktionsmitteln und das Ende der Profitwirtschaft könnte die Integration der einzelnen nationalen Volkswirtschaften zu einem harmonischen System vorangetrieben werden. Der ungleiche Austausch von Waren, der zu immer größeren Ungleichheiten zwischen den einzelnen Ländern führt, könnte eliminiert werden.

Der Übergang zum Kommunismus

Diese Periode der Umwandlung würde aufgrund der enormen Produktivitätssteigerungen der Arbeit eine drastische Senkung der täglichen Arbeitszeit erlauben, was den Arbeitern die Zeit geben würde, sich aktiv an der Verwaltung und Leitung aller gesellschaftlichen Bereiche zu beteiligen. In dieser Periode müsste der bürgerliche Staat einem Arbeiterstaat Platz machen, welcher in erster Linie die Aufgabe hätte, den Sieg der Revolution in jedem Land, auf der ganzen Welt zu erringen. Die Verwaltung und Leitung der Gesellschaft würde durch Komitees in den Fabriken, den Bezirken, den Regionen bis hinauf zur staatlichen und internationalen Ebene organisiert werden.

Wer eine Verwaltungsfunktion hat, wäre jederzeit wähl- und abwählbar und würde nicht mehr als einen durchschnittlichen Facharbeiterlohn verdienen. Ziel muss es sein, durch eine allgemeine Hebung des kulturellen Niveaus (Bildungssystem würde sofort ausgebaut werden!), die gesamte Bevölkerung in Form eines Rotationsprinzips an der Verwaltung zu beteiligen. Diese Vorstellungen sind nicht irgendwie aus der Luft gegriffen, sondern knüpfen an den Erfahrungen von 150 Jahren Geschichte der Arbeiterbewegung, und im besonderen der Pariser Kommune 1871 und der Russischen Revolution von 1917, an.

Dieser „Halbstaat", der von Marxisten auch als „Diktatur des Proletariats" oder Arbeiterdemokratie genannt wird, würde Schritt für Schritt seinen Charakter der Verteidigung der Errungenschaften der Revolution verlieren und immer mehr ein reines Organ der Verwaltung und der Vollstrecker jener Pläne, die sich die Gesellschaft selbst gibt, werden. Mit der Abnahme der sozialen Konflikte würde auch der Bedarf an Zwangsinstrumenten (z.B. Polizei) in dem Maße abnehmen, indem die durch soziale Ursachen hervorgerufene Gewalt, der Egoismus, usw. tendenziell verschwinden würden.

Somit würde der Halbstaat durch die volle Entwicklung der Solidarität und der Gleichheit in der menschlichen Natur überflüssig und diese neue klassenlose Gesellschaft könnte sich den Satz von Karl Marx auf die Fahnen schreiben: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen."

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