Kategorie: Deutschland

Editorial Funke Nr. 102: Auf in den heißen Herbst

Das war ein heißer Sommer mit rasanten politischen Erschütterungen und Blitzeinschlägen, die es in sich haben.


Der erste Schlag für das etablierte kapitalistische Europa der Banken und Großkonzerne kam pünktlich zum Sommeranfang. So stimmte am 23. Juni eine Mehrheit des britischen Wahlvolks für den Brexit, also den Austritt aus der EU. Eine Schlappe, die den Vertretern der Herrschenden zunächst die Sprache verschlug und zeigte, wie tief die Krise in Europa gediehen ist. Schließlich hat das deutsche Kapital über die EU seit Jahrzehnten systematisch seine Vorherrschaft in Europa ausgebaut und damit auf friedlichem Weg weitgehend erreicht, was in zwei Weltkriegen systematisch in die Hosen ging. Jetzt geht dieser Prozess des kapitalistischen Zusammenwachsens Europas wieder rückwärts und macht sich in Europa zunehmender Nationalismus breit.

Kapitalistisches Europa

Diese Entwicklung kommt für uns MarxistInnen nicht überraschend. Schon im Jahre 1997, als nahezu jedermann voller Zuversicht einen unaufhaltbaren Trend hin zur europäischen Einigung prognostizierte, stellten wir eine ganz andere Perspektive auf:
„Das Problem ist, dass die europäischen Kapitalisten versuchen, die Integration voranzutreiben, obwohl die ökonomischen Bedingungen dafür nicht mehr gegeben sind. Bei Wachstumsraten von 5-6 Prozent, wie wir sie während der Phase des langen Wirtschaftsaufschwungs hatten, könnten sie die Währungsunion ohne große Schwierigkeiten über die Bühne bringen. Mit Wachstumsraten von nicht einmal zwei bis drei Prozent ist dies aber unmöglich. (...) All das bedeutet, dass ein europäischer Bundesstaat auf kapitalistischer Basis ausgeschlossen ist. Besonders unter den Bedingungen einer Weltwirtschaftskrise, die in den nächsten Jahren unvermeidlich ist und die all die Widersprüche zuspitzen wird. Es ist unwahrscheinlich, dass die EU auseinanderbrechen wird, weil es um die Verteidigung des europäischen Marktes gegen die USA und Japan geht. Die europäischen Staaten haben nur die Wahl, gemeinsam oder einzeln zu hängen. Aber der Trend hin zur europäischen Einigung wird in einer Flut von Konflikten und Streitereien untergehen.“ (A Socialist Alternative to the European Union, Alan Woods, 4. Juni 1997).

Unterdessen gehen die Verelendung der Massen in Griechenland, der Kahlschlag und der Ausverkauf auch ein Jahr nach der Kapitulation der dortigen Regierung der Linkspartei Syriza unter dem Diktat aus Berlin und Brüssel weiter. In Frankreich zeigten derweil kämpferische Teile der arbeitenden Klasse im Frühjahr eine Entschlossenheit zur Abwehr der reaktionären Arbeitsgesetze der sozialdemokratischen Regierung unter Präsident François Hollande. „Wenn ich streike, habe ich Lohnverlust. Wenn ich aber jetzt nicht streike, fehlen mir bis zur Rente Monat für Monat 200 Euro“, brachte es ein Eisenbahner auf den Punkt, als wir im Juni eine Streikversammlung in Nancy besuchten. Die imposante Streikbewegung ist allerdings wieder abgeflaut und vorerst im Sande verlaufen. Terrormeldungen, Sportereignisse und Sommerpause haben ein Stück weit abgelenkt, die Gewerkschaftsspitzen haben zudem keine Bündelung der Kräfte zustande gebracht. Doch der Konflikt schwelt weiter. und könnte in einen heißen Herbst münden.

Kriege

Dass Kapitalismus und Imperialismus Krieg bedeuten, hat sich in Syrien in diesem Sommer wieder auf traurige Weise gezeigt. So geht die Zerstückelung des Landes durch die Imperialisten, regionale Mächte und ihre Stellvertreterarmeen unvermindert weiter. Wo es um Einflusssphären und wirtschaftliche Dominanz geht, spielen Menschenleben und Menschenrechte keine Rolle. Der Krieg in Syrien hat die „fortschrittliche“ Maske des Imperialismus zerstört und enthüllt die hässliche Fratze der Barbarei. Die Heuchelei der Berliner Bundesregierung mit ihrer Anbiederung an den türkischen Präsidenten Erdogan und seine Regierung schreit zum Himmel. Der britische Ex-Premier Tony Blair, der im vergangenen Jahrzehnt treuester Verbündeter des damaligen US-Präsidenten George W. Bush im angeblichen „Krieg gegen den Terror“ war, ist inzwischen nach einem amtlichen Untersuchungsbericht über die britische Beteiligung am Irakkrieg als Lügner und Kriegstreiber entlarvt.

Corbyn

À propos Tony Blair. Lange Jahre hat dieser bürgerliche Karrierist mit seinen Vertrauten, den Blairites, die britische Labour Party okkupiert und sehr weit nach rechts gedrückt. Seit einem Jahr schlägt das Pendel der traditionellen Arbeiterpartei wieder nach links. Mit Jeremy Corbyn wurde ein linker Außenseiter in die Position des Parteichefs katapultiert. Jahrelang angestaute Wut über miserable Lebensbedingungen hat Corbyns Aufstieg gefördert. Als die Blairites im Sommer Corbyn wegputschen wollten, traten mehrere hunderttausend Jugendliche und ArbeiterInnen spontan in die Partei ein, um Corbyn zu stärken.

Mit ihm ist die Labour Party – inzwischen mit weit über einer halben Million Mitglieder – zur größten Partei Westeuropas geworden. Sie hat die schwächelnde und kränkelnde SPD klar abgehängt, in der weit und breit kein „deutscher Corbyn“ sichtbar ist. In Regional- und Nachwahlen ist deutlich geworden, dass Corbyns explizit linkes Programm ankommt und dazu beiträgt, der rechten UKIP-Partei das Wasser abzugraben.

Sanders

Auf der anderen Seite des Atlantiks hat allerdings ein anderer „Hoffnungsträger“ inzwischen das Handtuch geworfen. Mit klaren Worten gegen die Herrschaft der Milliardäre hatte Bernie Sanders Zulauf von Millionen arbeitenden und ausgegrenzten Menschen. Er hat Begriffe wie „Revolution“ und „Sozialismus“ wieder populär gemacht.
Dass er nun ausgerechnet Hillary Clinton stützt, die Traumkandidatin der Milliardäre, hat viele seiner Anhänger fassungslos bis wütend gemacht. Dies zeigt, dass wir uns nicht allein auf einzelne Persönlichkeiten verlassen dürfen, sondern immer eine schlagkräftige Organisation von unten mit klaren revolutionären Ideen aufbauen müssen.

Grabesstille in Deutschland?

Unterdessen ist auch die Partei DIE LINKE auf deutlich unter 60.000 Mitglieder abgesackt. Abgesehen von Zuwächsen bei den hessischen Kommunalwahlen hat sie bis Redaktionsschluss bei allen Landtagswahlen 2016 verloren und teilweise massiv Stimmen eingebüßt. Zum Ende des heißen Sommers erschütterte die Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern das politische Establishment. In der Heimat von CDU-Kanzlerin Angela Merkel ist die CDU erstmals unter 20 Prozent abgerutscht. Wenn Frust und Existenzängste im „Armenhaus“ der Republik reichlich Wasser auf die Mühlen der Rechtspartei AfD geleitet haben, ist das ein Warnschuss für die LINKE, die offensichtlich als Teil des etablierten Regierungsblocks angesehen wird und der Unzufriedenheit keinen Ausdruck verleihen kann.

Längst versucht uns die herrschende Klasse auch hierzulande mit ständiger Terrorangst bei der Stange zu halten und von den sozialen Problemen abzulenken. So werden rassistische Feindbilder bedient und eine Aufrüstung des Staats gerechtfertigt. Nun machen auch wieder Vorschläge für einen Einsatz der Bundeswehr im Innern die Runde. Auf Dauer können damit jedoch auch in diesem Land die Klassenkämpfe weder gedämpft noch abgeblockt werden. Die herrschende Klasse weiß oder ahnt, dass die zunehmende Ungleichheit und anhaltende Verschlechterung der Lebensverhältnisse in ihrem System früher oder später massiven Widerstand auslösen wird und will sich darauf durch einen Ausbau der staatlichen Überwachungs- und Repressionsapparate vorbereiten. Die Frage lautet nicht „ob“, sondern „wann“ es hier zu größeren und umfassenden sozialen Protesten kommt.

Die anstehenden bundesweiten Massendemonstrationen gegen die Freihandelsabkommen TTIP, CETA und TISA am 17. September könnten ein erstes Zeichen setzen. Immerhin waren zur Überraschung aller Beteiligten, der herrschenden Klasse und ihrer Sprachrohre schon vor einem Jahr, im Oktober 2015, über 250.000 Menschen in Berlin in dieser Sache auf den Beinen. Dies war die größte Demonstration in diesem Lande seit vielen Jahren. Viele Menschen nahmen erstmals in ihrem Leben an einer politischen Demonstration teil.

Die Welt ist überreif für eine revolutionäre, sozialistische Veränderung. Bereiten wir uns systematisch auf die unvermeidlichen kommenden Bewegungen vor, damit uns die großen Niederlagen früherer Generationen erspart bleiben. In diesem Sinne: Viel Spaß und neue Erkenntnisse beim Lesen dieser Ausgabe! Tragt die Ideen weiter und verkauft unsere Zeitschrift! Macht mit beim Aufbau einer marxistischen Alternative in der sozialistischen und ArbeiterInnenbewegung!

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