Kategorie: Kultur

Gerechtigkeit für die 96 Toten im Hillsborough-Stadion

Aber der Kampf geht weiter! Das gesamte System ist verrottet! Ein Lehrstück über die Arroganz der Bourgeoisie gegenüber der ArbeiterInnenklasse in der Thatcher-Ära.


Das Urteil der Jury bei der zweiten gerichtlichen Untersuchung des Todes von 96 Menschen bei einem Fußballspiel am 15. April 1989 wird zu einer vernichtenden Anklage gegen die Polizei und das gesamte Establishment, einschließlich der damaligen Tory-Regierung und der dressierten Presse. Mit den Worten der Aktivistin Margaret Aspinall (deren Sohn einer der Toten war) auf der Kundgebung am Tag nach dem Urteil: „Das gesamte System ist verrottet!“

Die Urteile bestätigen, dass die 96 Menschen unrechtmäßig getötet wurden und die Schuld dafür nicht bei den Fans liegt, sondern bei der Polizei und den für das Hillsborough-Stadion von Sheffield Wednesday Verantwortlichen, in dem das FA-Cup Halbfinale zwischen Liverpool FC und Nottingham Forest stattfand. Klar ist auch, dass die Polizeibehörde nach dem Unglück einen langen Prozess der Lügen und der Vertuschung der Wahrheit einleitete, um die Fans selbst für die Toten verantwortlich zu machen.

27 Jahre lang leugneten diese Menschen die Wahrheit und erhielten dafür die volle Unterstützung ihrer Dienstvorgesetzten. Selbst bei der gerichtlichen Untersuchung, die nicht die erste war, logen die aktiven und ehemaligen Polizisten, selbst unter Eid. Nur durch das Geständnis von David Duckenfield, dem damaligen verantwortlichen Polizeioffizier, der zugab, dass seine Entscheidung das Tor hinter den Fans zu öffnen, den Tod direkt verursacht haben könnte und nicht die Aktionen der Fans und dass er gelogen habe, entzog dem Komplott jegliche Grundlage. Die Wahrheit kam ans Tageslicht: Die Polizei und die Hilfskräfte reagierten zu langsam und waren mehr damit beschäftigt, die Zuschauer unter Kontrolle zu halten, als den Verletzten und Sterbenden zu helfen. Dieser Polizeioffizier, den selbst seine eigenen Kollegen als arrogant und unerfahren bei Einsätzen in Fußballstadien bezeichneten, wurde gezwungen nach 27 Jahren zuzugeben, dass er gelogen hatte.

27 Jahre kämpften die Familien, unterstützt von AktivistInnen und FußballanhängerInnen im gesamten Land, für Gerechtigkeit und Wahrheit. Für sie waren diese schrecklichen Todesfälle eine offene Wunde, die nicht heilen konnte, bis den Toten Gerechtigkeit widerfahren war. Sie kämpften weiter angesichts ständiger Opposition durch das Establishment. Die Regierung, die Presse, die Richter und Anwälte und das gesamte System stellten sich seit dem ersten Tag gegen sie und einige Familienangehörige berichteten sogar, dass die Polizei gesehen wurde, als sie deren Häuser belauerte.

Zuerst einmal sollte darauf hingewiesen werde, dass was 1989 in Hillsborough geschah, die große Verachtung des Establishments gegenüber der ArbeiterInnenklasse zeigt. Das ist auch heute noch der Fall, wie Owen Jones in seinem ausgezeichneten Buch Chavs darlegt, wie die ArbeiterInnenklasse von der Politik und der Presse behandelt wird. Fußballfans wurden in den 1970ern und 1980ern als besonders sichtbare Beispiele von Krawallmachern aus der ArbeiterInnenklasse betrachtet (genauso wie GewerkschafterInnen), die man jederzeit dämonisieren konnte. Das Wort „Fußball-Hooligan“ wurde der Inbegriff zur Beschreibung junger Zuschauer. Entsprechend wurden diese von der Polizei und den Fußballfunktionären behandelt. Auf der anderen Seite waren sie froh über das Eintrittsgeld und quetschten dann die jungen Fans in alte veraltete Stadien mit rostigen Schutzplanken und Eisenzäunen. Premierministerin Thatcher hatte großes Interesse daran, Randale wie die beim Spiel Luton-Millwall oder die Katastrophe in Heysel zum Vorwand zu nehmen, um Ausweise für alle Fans einzuführen, um sie de facto wie Kriminelle zu behandeln, als Vorstufe für die Einführung von Personalausweisen für alle BürgerInnen. Paradoxerweise wurde dieser Plan nach den Ereignissen in Hillsborough verworfen, obwohl New Labour diesen wieder ins Leben rufen wollte.

Natürlich hatten die Behörden kein Interesse daran, aus warnenden Beispielen, die vor dem April 1989 geschahen, zu lernen. 1981 erlebte der Autor bei einem anderen Halbfinale in Hillsborough, dass Fans im Spurs-Block sogar so eng zusammengepfercht wurden, dass es nicht mehr möglich war, seine Füße auf den Boden zu bekommen. An diesem Tag wurden die hinteren Tore aber nicht geöffnet wie 1989, sondern die Tore in den vorderen Zäunen, um die Fans auf das Feld zu lassen, wo sie sich dann in Sicherheit bringen konnten, so wurde der Druck verringert. Ein ähnliches Beispiel gab es auch bei einem Halbfinale 1988. Jeder Fußballfan, der damals Spiele besuchte, kann viele Gelegenheiten beschreiben, wo er von Polizei und Ordern zusammengepfercht und –geschoben wurde. Trotzdem sorgte sich niemand um die Sicherheit der Fans, denn das waren ja nur betrunkene „Hooligans“, die auf Randale aus waren. Wenn so etwas bei einem Rugby-Spiel passiert wäre, das normalerweise mehr von Zuschauern aus der Mittelklasse und der Bourgeoisie besucht wird, oder in einer Oper, dann hätte man Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt und sofortige Maßnahmen gefordert. Bis 1989 wurden in den Fußballstadien jedoch keine Vorkehrungen getroffen.

Es war der Klassenhass, der es der Polizei in Verbindung mit dem übrigen Establishment ermöglichte, sicher zu sein, die wirklichen Geschehnisse von Hillsborough 1989 zu verschleiern. Die Polizei in South Yorkshire war gut darauf vorbereitet. Sie hatte als Thatchers Sturmtruppe während des Bergarbeiterstreiks einige Jahre zuvor eine besondere Brutalität an den Tag gelegt, nicht zuletzt in Orgreave. Sie wurde nach militärischem Vorbild geführt und die Befehle mussten umgesetzt werden, was immer auch geschah. Man ließ sie nicht im Regen stehen. In David Pearce Büchern, The Red Riding Quartet (1999-2002) wird das Ausmaß an Korruption in der West Yorkshire Constablery schon vor dem Bergarbeiterstreik beschrieben. Thatcher war von Anfang an sehr daran interessiert, die „wir und sie-Haltung“ unter den Polizisten zu schaffen und kaufte deren Loyalität durch eine hohe Gehaltserhöhung.

Es war sehr klar, dass die Polizei keine Probleme damit hatte, eine Verschleierungspolitik zu betreiben und die Schuld für die Vorfälle in Hillsborough den “betrunkenen Hooligans” in die Schuhe zu schieben. Es passte mit dem Bild von Merseyside überein, das nach den militanten Kämpfen des Liverpooler Stadtrats gegen die Kürzungen der Tory-Regierung einige Wochen zuvor, aufgebaut worden war. Sie suchte „Beweise“ für Trunkenheit, sogar als die Opfer am Sterben oder schon gestorben waren.

Natürlich wurde es unabdingbar, zu behaupten, dass die Toten um 15:30 Uhr entweder bereits gestorben oder nicht mehr zu retten waren. Diese Behauptung sprach die Behörden davon frei, fahrlässig oder nicht schnell genug gehandelt zu haben, so dass Menschleben hätten gerettet werden können. Augenzeugen widersprachen dieser Darstellung und bestätigten, dass einige der 96 noch am Leben waren. Infolgedessen mussten die an diesem Tag diensthabenden Polizisten Berichte über die Vorgänge schreiben, aber nicht in ihrem Dienstbuch, sondern auf losen Blättern. Diejenigen, die einen Bericht schrieben, welcher der offiziellen Darstellung widersprach, wurden unter Druck gesetzt, um ihre Aufzeichnungen zu ändern oder diese wurden ohne deren Wissen einfach abgeändert. Polizisten, die trotz des Drucks bei ihrer Darstellung blieben, wurde angedroht, dass sie mit negativen Konsequenzen zu rechnen hätten.

Das war aber noch nicht alles. Offiziere begannen Journalisten aus den Mainstreammedien mit Berichten über betrunkene Fans, welche die Toten ausgeraubt haben sollten, zu versorgen und The Sun und andere regierungsnahe Zeitungen druckten diese voller Freude. Selbst die Zeitungen, welche die übelsten Lügen von The Sun, ein Schmierenblatt, das mittlerweile in Merseyside boykottiert wird, nicht druckten, waren froh, die von der Regierung vorgegebene Generallinie zu verfolgen und Fans auf die eine oder andere Weise verantwortlich zu machen. Dies blieb jahrzehntelang auch die offizielle Position der Tory-Regierung. Londons Bürgermeister Boris Johnson erklärte diese von den Herrschenden erfundene Darstellung in einem Leitartikel in The Spectator zur Tatsache. 2011, sagte David Cameron: „Die Familien der Hillsborough-Tragödie verhalten sich wie ein Blinder, der in einem dunklen Raum nach einer schwarzen Katze sucht, die nicht da ist.“

Schon früher erhob der Taylor-Report (der sich mit den allgemeingültigen Schlüssen aus der Katastrophe beschäftigte) schwere Bedenken gegen das Verhalten der Polizei und der für das Stadion Verantwortlichen an diesem Tag, trotzdem wurde keine Anklage gegen einen der Beteiligten erhoben. Die Vertuschung wurde in der ersten Untersuchung 1990 unterstützt, in der entschieden wurde, dass keine Beweise aus dem Zeitraum nach 15:15 Uhr herangezogen werden sollten, um jegliche Zweifel über die offizielle Verlautbarung, dass alle Getöteten zu diesem Zeitpunkt schon gestorben waren, ausgeschlossen werden sollten. Sicherheitshalber war das zahlenmäßige Verhältnis der Rechtsvertreter der Polizei zu denen der Familien der Getöteten sechs zu eins. Polizisten, die aussagten, erhielten jede mögliche Unterstützung, während die Familien wie Kriminelle behandelt wurden. In jedem einzelnen Fall wurde der Blutalkoholwert eines Getöteten vorgelesen, um die Lügen der Polizei zu stützen. Der Beschluss ließ keinen Zweifel, alle waren an den Folgen eines „Unglücks“ gestorben. Die Angehörigen waren am Boden zerstört und nachdem die Anwälte ihre Mandate aufgaben, schien alles verloren zu sein. Trotzdem kämpften einige mit begrenzten juristischen Mitteln weiter. Ein Antrag, das Urteil der Untersuchung zu kippen, wurde 1993 von einem hohen Gericht, das mehr als froh war der Polizei und dem Untersuchungsrichter hilfreich zur Seite zu stehen, zurückgewiesen.

Am Rande bemerkt, sollten wir uns an eine ähnlich hastig durchführte Untersuchung nach der Feuerkatastrophe bei Bradford City erinnern. Hier wurden keine Beweise über den vor Ausbruch des Feuers wahrgenommenen Benzingeruch im Stadion, dessen Tribünen aus Holz bestanden, präsentiert, oder über den Vorsitzenden von Bradford City, der im Verdacht stand, mehrfach in seinen Fabriken Feuer gelegt zu haben, als diese in finanziellen Schwierigkeiten steckten. Auch hier konnte man spüren, dass Fußballfans es nicht wert waren, dass man eine ernsthafte Untersuchung ihrer Todesumstände führte.

Alles schien verloren zu sein, aber ein Hoffnungsschimmer blieb, die Labour Party hatte versprochen eine neue Untersuchung einzuleiten, sollte sie an die Regierung kommen, was im Mai 1997 auch geschah. Am 06. Oktober 1997 begann unter der Leitung von Lord Justice Stuart-Smith eine neue Beweisaufnahme. Diese lief einseitig zugunsten der Polizei, eine Berücksichtigung der unterdrückten Beweise wurde abgelehnt und das ursprüngliche Urteil bestätigt. Es wurde klar, dass New Labour mit seinen guten Verbindungen zum Establishment (Tony Blair war ehemals Anwalt) den Status quo erhalten und mit der Vertuschung fortfahren wollte. Obwohl Innenminister Jack Straw Stuart Smith den Rücken stärkte, tanzte Justizminister Lord Falconer aus der Reihe und war der Meinung, dass die Anhörungsergebnisse falsch seien und der Justiz nicht Genüge getan worden sei.

Die Hillsborough Family Support Group und andere kämpften weiter um die Wahrheit. Die Rufe nach Gerechtigkeit wurden lauter, es kam zu Protesten in den Stadien und auf den jährlichen Gedenkveranstaltungen. Die Forderung nach der Herausgabe aller relevanten Dokumente wurde in den Mittelpunkt gestellt. Aufgrund des Drucks forderten im April 2009 Kulturminister Andy Burnham und die Abgeordnete Angela Eagle ein Verfahren, um dies zu ermöglichen. Als Ergebnis wurde das Hillsborough Independent Panel eingerichtet. 2012 gab dieses Gremium bekannt, dass den Fans keine Schuld träfe, das Versagen der Polizei deutlich geworden wäre und – der kritischste Aspekt – dass Beweise gefälscht und die Wahrheit vertuscht worden seien. Nebenbei wurde auch bemerkt, dass der damalige Tory-Abgeordnete Irvine Patnick eine zentrale Rolle bei der Weitergabe falscher Informationen von der Polizei an die Presse gespielt habe. Das gesamte Establishment stand unter Anklage und aufgrund des Drucks wurden die ursprünglichen Untersuchungsergebnisse niedergeschmettert und eine neue Untersuchung angeordnet. Premierminister Cameron musste sich im Parlament für das Geschehene entschuldigen. Die Polizei von West Yorkshire und den Midlands wurde beschuldigt, an der Unterdrückung von Beweisen beteiligt gewesen zu sein und die Independent Police Complaints Commission (Unabhängige Beschwerdestelle gegen die Polizei/IPCC) wurde gezwungen, eine Untersuchung anzukündigen, bei der wenigstens 1444 ehemalige und aktive Polizisten angehört werden sollten. Die Staatsanwaltschaft überprüfte, ob jetzt Anklage erhoben werden sollte. Es war eine bodenlose Frechheit, dass die Polizei forderte, dass die neue Untersuchung um mindestens sechs Jahre verschoben werden sollte, damit die Ermittlungen der IPCC und der Staatsanwaltschaft ihren Lauf nehmen könnten. Wir wissen jetzt warum.

Die Familien haben nun endlich eine offizielle Bestätigung erhalten, dass ihre Angehörigen durch das Versagen des Systems ums Leben gekommen sind. Die Polizei versucht auch jetzt immer noch ein Fehlverhalten zu leugnen oder begrenzt die Anschuldigungen auf ein paar schwarze Schafe. Dieser Skandal ist keine Eintagsfliege, dazu gehören der Bloody Sunday, die Shrewsbury pickets (Streikposten), die Birmingham Six etc. Das System ist verrottet. Die Panama-Papiere mit der Enthüllung der Kultur der Steuerhinterziehung der Reichen und Mächtigen, ist der jüngste Skandal auf einer langen Liste. Die Polizei und die Staatsorgane glauben, sie stünden über dem Gesetz und das nicht ohne Grund, denn es ist einfacher mit dem Bus zum Mond zu fahren als einen Polizisten zu verurteilen. Der Pädophilie-Skandal, an der der verstorbene Politiker Cyril Smith beteiligt war, bei dem zuerst Beweise gesucht wurden und die dann später verschwanden, zeigt, wie diese Leute agieren. Sie wissen, dass es ein Recht für die Reichen gibt und eines für die Armen. Das ist Kapitalismus pur.

Der Kampf für die Gerechtigkeit der 96 (und für weitere 700, die verletzt und für noch mehr, die traumatisiert wurden) geht weiter. Alle die das Fehlverhalten stillschweigend gedeckt haben, müssen vor Gericht gebracht werden, obwohl sie alle Mittel ausschöpfen werden, dies zu verhindern oder zu begrenzen. Wir müssen verstehen, dass es sich nicht um einen Einzelfall handelt oder um ein Relikt aus der Vergangenheit, das nicht wieder passieren wird. Tatsächlich geschehen diese Skandale ständig und der Staat zeigt, welcher Seite und welcher Klasse er dient. Marx‘ Analyse über den Staat, die von Lenin in seinem Werk „Staat und Revolution“ weiterentwickelt wurde, zeigt, wie der Staat funktioniert und wessen Interessen er vertritt. Der Skandal über den Tod von 96 Männern, Frauen und Kinder an einem sonnigen Samstag im April 1989 ist ein lebender Beweis für diese Analyse. Jeder Fußballfan ab einem bestimmten Alter kann sich daran erinnern, wo er oder sie am Nachmittag des 15. April 1989 war. Sie können sich an die Blumen und die Widmungen vor jedem Stadion im Land erinnern, an das Niederreißen der verhassten Zäune, an das Blumenfeld im Anfield-Stadion und an die ernsten Gesichter der Spieler, die an den vielen Beerdigungen teilnahmen.

Der Todeskampf der 96 vereinte die Fans vom FC Liverpool und die vom FC Everton und die Menschen in Merseyside und darüber hinaus. Die Rufe nach Gerechtigkeit wurden an jedem Gedenktag im gesamten Land wiederholt. Die große Solidarität stärkte die Familien, wie sie es bei Menschen aus der ArbeiterInnenklasse immer tut. Sie haben das wahre Gesicht des Systems vor Augen gehabt, das ihnen 27 Jahre lang die Chance nahm, voranzukommen. Der Kampf, der noch lange nicht vorbei ist, geht weiter, sowohl für die Gerechtigkeit der 96 als für auch für alle Opfer des kapitalistischen Systems. Es kann keine größere Ermutigung geben Sozialist zu sein und für den Sozialismus zu kämpfen.

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