Kategorie: Theorie

Zum Jahrestag der Proteste in Genua: Ziviler Ungehorsam oder Klassenkampf?

Interview mit Sara Parlavecchia aus Mailand aus dem Jahr 2001 über die Lehren aus den Ereignissen von Genua. Sie ist aktiv in der Rifondazione Comunista und Unterstützerin unserer marxistischen Schwesterzeitung “Falce Martello”.

Du warst während der gesamten Proteste gegen den G8-Gipfel in Genua. Wie siehst Du im nachhinein diese Tage?

Genua war durch die Teilnahme von mehr als 200.000 Menschen mit Sicherheit der vorläufige Höhepunkt dieser antikapitalistischen Bewegung, die immer dort auftritt, wo die Institutionen des internationalen Kapitalismus ihre Gipfeltreffen abhalten wollen. Angesichts dieser neuen Qualität der Konfrontation mit dem bürgerlichen Staatsapparat wurden in Genua alle Theorien, Methoden und die verschiedenen Perspektiven, die im Vorfeld in der Bewegung zur Diskussion standen, einer beinharten Prüfung unterzogen.

Welche Bilanz ziehst Du aus diesen Erfahrungen?

In der Öffentlichkeit, nicht nur in den bürgerlichen Medien, sondern auch in der Linken, werden immer das Genoa Social Forum (GSF) und die Tute Bianche als die Bewegung dargestellt. Für viele mag es den Anschein haben, dass vor allem die Konzepte der Tute Bianche Garant für den Aufstieg dieser Bewegung waren. Doch selbst Luca Casarini, der Sprecher der Tute Bianche, musste eingestehen, dass diese Methodik unter den neuen Bedingungen und angesichts dieser Form der Polizeirepression ihre ihr zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann.

Wie sieht dieses Konzept der Tute Bianche konkret aus?

Die Tute Bianche traten in Italien Mitte der 90er erstmals auf. Ihr Symbol, der weiße Overall, zeigt, dass sie in der Arbeiterklasse kein Subjekt politischer Veränderung mehr sehen. Der weiße Overall ist aus ihrer Sicht Ersatz für den Blaumann, die Arbeitsbekleidung der Industriearbeiter, vor allem in der Metallindustrie, der traditionell kämpferischste Teil der italienischen Arbeiterklasse. Aufbauend auf den Theorien des Postfordismus meinen sie, die Arbeiterklasse existiere als solches gar nicht mehr, weil sie durch die neuen Produktionsformen völlig fragmentiert sei und über die Gewerkschaften ins bürgerliche System integriert sei. Die Tute Bianche sind in Wirklichkeit nichts anderes als der radikalste Teil dieser sogenannten Zivilgesellschaft. Ihr Konzept des zivilen Ungehorsams soll die Methoden des Klassenkampfs, wie den Streik, ersetzen.

In der Bewegung ist ihre Idee weit verbreitet, dass der eigentliche Sinn der Demos das Überschreiten der “roten Linie” darstelle. Erfolg und Misserfolg kann man demzufolge in Metern oder Zentimetern berechnen. Da können die Fürsprecher für dieses Konzept noch so gute Absichten haben - wie das Aufzeigen der Rolle der Polizei, die nicht das demokratische Demonstrationsrecht sondern die Herrschenden beschützen soll. Wer in so einer Situation für zivilen Ungehorsam eintritt, will die “rote Linie” überqueren und nimmt dann in Kauf, sich blutig schlagen zu lassen.

Aber hat diese Konzeption nicht eine enorme Symbolkraft?

Symbole sind in jeder politischen Bewegung sicher wichtig. Hier macht aber die Betonung der Symbole einen Blick auf die Realität, die dahinter steckt, unmöglich. Die Proteste hatten bisher eine große Bedeutung, weil sie die Verbrechen des Kapitalismus offen angeklagt haben. Aber die Ursachen dafür liegen nicht in den Gipfeltreffen oder der Existenz von Institutionen wie dem IWF, sondern im Privateigentum an den Produktionsmitteln und dem bürgerlichen Staatsapparat, der dieses verteidigt. Wer auf “direkte Aktion” und das Überschreiten der roten Linie setzt, senkt in Wahrheit das politische Niveau dieser Bewegung. Die Symbole werden so zu einem reinen Fetisch.

Du lehnst also das Konzept einer militärischen Auseinandersetzung mit der Polizei, mit dem Ziel die Gipfeltreffen zu blockieren, ab?

Die Polizeiaufgebote bei diesen Gipfeln werden immer größer, und die Polizei ist immer besser vorbereitet. Mir fehlen klare Antworten, wie man diese militärische Übermacht wirklich herausfordern kann. Als Marxistin sehe ich natürlich den historischen Wert von Aufständen - aber nur wenn sie von einer revolutionären Massenbewegung, allen voran der Arbeiterklasse, getragen werden.

Aber steht die antikapitalistische Bewegung überhaupt vor so einer Frage?

Wohl kaum. Die überwältigende Mehrheit der TeilnehmerInnen an Demos wie in Genua hat ganz andere Vorstellungen. Das will die eine oder andere selbsternannte “Avantgarde” vielleicht nicht anerkennen, wird aber an den Tatsachen nichts ändern. Im jetzigen Stadium provoziert man mit diesen direkten Aktionen nur Tragödien, das Bewußtsein der AktivistInnen oder derer, die mit uns sympathisieren, wird so aber nicht steigen.

Aber wird durch diese Auseinandersetzung mit der Polizei nicht doch eine neue Generation radikalisiert?

Meine Kritik ist vor allem, dass die Tute Bianche mit ihrer militärischen Logik völlig darauf verzichten, die heutzutage absolut notwendige Debatte über politische Perspektiven zu führen. Der daraus resultierende Mangel an politischer Klarheit kann dann selbst die “radikalsten” Teile, die in ihren Centri Sociali ihre Gegenwelt zum kleinbürgerlichen Spießertum aufbauen wollen, zu Stützen des Status Quo werden lassen. In Triest etwa haben sie auf der Liste der Grünen kandidiert und in einem Wahlbündnis der Mitte-Links-Parteien einen Vertreter der Industriellenvereinigung im Kampf um den Bürgermeistersessel unterstützt. Dafür haben sie am 1. Mai, dem Kampf- und Feiertag der Arbeiterklasse, gemeinsam mit der ganzen Zivilgesellschaft zum “Tag der Bürger” aufgerufen.

Die Sprachrohre der Bewegung mischen die neue Radikalität auf den Straßen mit einem Versuch zu angeblicher Realpolitik “fern der alten, starren Ideologien” und säen damit nur Konfusion in der Bewegung. Hinter den weißen Overalls versteckt sich nichts anderes als ein neuer Reformismus.

Wie hat sich das in Genua ausgedrückt?

Während wir in Genua die Beteiligung von zehntausenden gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen gesehen haben, die diese Demos nutzten, um ihre eigenen Kämpfe gegen das Kapital und die Regierung Berlusconi weiterzuführen, beschränkten sich die Tute Bianche darauf, Symbole zu setzen, die “rote Zone” zu überschreiten und so für die Massenmedien interessant zu werden. Der Black Bloc ist nur die logische Fortführung dieses Konzepts. Denn was ist für die Medien interessanter, als ein Grüppchen, die eine ganze Stadt in Feuer und Asche legen.

Diese von den Sprechern des GSF und der Tute Bianche betriebene Manie, für die Medien sichtbar sein zu müssen, hat sich aber gegen die gesamte Bewegung gerichtet.

Nach Genua gibt es in Italien eine breite Debatte über die Art und Weise, wie in Zukunft diese Proteste ablaufen sollten. Welche Alternativen siehst Du?

Das Problem der Selbstverteidigung ist in Genua augenscheinlich geworden. Die “Ordnungshüter” haben gezeigt, dass sie zu allem bereit sind, wenn die Bewegung das ganze System in Frage zu stellen wagt. Mit pazifistischen Methoden, weiß bemalten Händen und Appellen, man möge nicht mit Gewalt gegen die DemonstrantInnen vorgehen, werden wir nicht weit kommen. Die Weigerung des GSF und der Tute Bianche einen wirklichen Ordnerdienst aufzubauen, läuft jetzt darauf hinaus, dass man dem Gegner die Straße überläßt. Für den NATO-Gipfel im September in der Nähe von Neapel will man statt einer Demo nur noch eine Diskussionsveranstaltung in einem Theater oder Kino organisieren. Wir sind zwar viele, aber die Polizei ist ganz einfach besser organisiert. In Genua hatten wir weder Formen des Selbstschutzes noch eine klare politische Führung. Das Konzept “jeder macht, was er will” ist eine echte Gefahr für die Bewegung. Wir dürfen uns durch die Repression nicht einschüchtern lassen, wir werden unser Demonstrationsrecht verteidigen. Das geht aber nur mit einem Ordnerdienst.

Dieser neue “Radikalismus” kann leicht in sein Gegenteil umschlagen, wenn er nicht eine reale Verankerung in den Betrieben und Gewerkschaften schafft. Die Grünen oder andere soziale Bewegungen aus den 70ern und 80ern bieten dafür gute Beispiele. Es gilt in der Bewegung für eine klare Orientierung auf die Arbeiterbewegung und eine revolutionäre Perspektive einzutreten.

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