Kategorie: Europa

Die Massen betreten die Bühne

Am 1. Oktober 2017 stimmte die Bevölkerung Kataloniens mit 90% für die Unabhängigkeit vom spanischen Staat und für eine katalanische Republik. Die Wahlbeteiligung des etwa 7,5 Mio. EinwohnerInnen umfassenden Gebiets im nordöstlichen Teil der iberischen Halbinsel lag bei 42%. Die Wahl fand trotz massiver Gewaltanwendung seitens des spanischen Staats statt.


Nachdem das katalanische Parlament das Referendum Anfang September beschlossen hatte, erklärte der spanische Staat dasselbe unmittelbar für verfassungswidrig. Wochenlang terrorisierten Polizeieinheiten die Bevölkerung: Medienhäuser, die für das Referendum schrieben, wurden durchsucht, Webseiten geschlossen, hunderte AktivistInnen wurden verhaftet, Druckereien unter Zensur gestellt. Der spanische Premierminister Rajoy ließ 14 Amtsträger der katalanischen Regierung für ihre Arbeit zur Durchführung der Wahl verhaften und entsandte die Polizei zur Beschlagnahmung von Wahlzetteln und –urnen. Solidaritätsveranstaltungen in Madrid und anderen nicht-katalanischen Städten wurden gewaltsam aufgelöst.

Als Antwort auf die Repression hatten sich überall in der Region Referendum-Verteidigungskomitees gebildet. Um Verhaftungen bei Plakatier-Aktionen zu verhindern, zogen Menschen in großen Gruppen los und behängten die Städte mit Postern und Transparenten. Seit Tagen streiken SchülerInnen und StudentInnen für das Referendum. In den Tagen vor dem 1. Oktober besetzten zehntausende Menschen Schulen (Wahllokale), um sicherzustellen, dass die Wahl stattfinden konnte. 400 Feuerwehrleute positionierten sich zur Verteidigung der Gebäude und erhielten Unterstützung von Kollegen aus dem benachbarten Baskenland. BäuerInnen fuhren ihre Traktoren auf die Straßen, um die Polizei zu blockieren.

Die Polizei Spaniens und Kataloniens wurde angewiesen, jegliche Gebäude, die als Wahllokale dienten, zu versiegeln und Wahl­urnen zu beschlagnahmen. Sie gingen mit Schlagstöcken, Gummigeschoßen auf alle WählerInnen los, ohne Rücksicht auf Alte und Kinder zu nehmen – mehr als 800 Ver­letzte durch die Polizei wurden am Tag des Referendums gezählt.

Die antikapitalistische katalanische Partei CUP und Minderheitsgewerkschaften riefen bereits im Vorfeld zu einem Generalstreik für den 3. Oktober auf. Unter dem Druck von unten sahen sich schließlich auch die zuvor zögerlichen größten Gewerkschaften, CCOO und UGT, dazu gezwungen, zu einer „lan­desweiten Arbeitsniederlegung“ aufzurufen, ohne hier konkret organisierend zu wirken.

Der Generalstreik war ein massiver Erfolg. Nicht nur die Arbeiterklasse, sondern die gesamte Bevölkerung legte Katalonien komplett lahm, 100.000ende füllten die Straßen. Am Abend rückte der König zur Rettung Spaniens aus. In einer Rede, die auf alle Sender durchgeschalten wurde, forderte er den Staat auf „Verfassungsmäßigkeit und Demokratie in Katalonien wiederherzustellen“, die (bürgerliche) katalanische Regierung habe sich außerhalb der Demokratie gestellt, so der Monarch. Konservative, Liberale, Sozialdemokraten und ihre LeitartikelschreiberInnen stellten sich sofort bibbernd hinter dieses reaktionäre Fossil der Franco-Ära. Sie hoffen auf eine Kapitulation der katalanischen Bürgerlichen, und dabei haben sie das schwächste Glied des rollenden Aufstandes ins Visier genommen.

Zuvor forderte die spanische Sozialdemokratie, PSOE, Rajoy zu Verhandlungen mit der katalanischen Regierung auf. Dem will dieser nicht nachkommen, nicht zuletzt da er für seine Regierung die Unterstützung der Partei Cuidadanos benötigt, die gegen die katalanische Autonomie und für die Absetzung der dortigen Regierung und Neu­wahlen urgiert. Die Krise könnte zu einem Sturz der Rajoy-Regierung führen, die nach langen Verhandlungen noch nicht einmal ein Jahr steht. Vor unseren Augen entfaltet sich eine massive Krise des politischen Systems in Spanien, dessen treibende Kraft die katalani­schen Massen sind. Doch warum reagiert der spanische Staat so gewaltvoll und unnachgiebig auf das Kata­lonien-Referendum?

Staat & Revolution

Der moderne spanische Staat entstand nicht wie in anderen Ländern (am beispielhaftes­ten Frankreich mit der französischen Re­volution) auf Basis eines kapitalistischen Aufschwungs und einer bürgerlichen Revo­lution mit Massenunterstützung. Er wurde mit militärischen Mitteln und Gewalt von oben durchgesetzt – die spanische Bourgeoi­sie war eine der schwächsten Europa und stützte sich von Anfang an auf einen zentra­lisierten, bürokratischen Staat. Dieser konn­te die Altlasten des Feudalismus nie ganz abschütteln. Die spanische Monarchie zeugt bis heute davon. Die spanische herrschende Klasse ist noch mehr als in anderen Ländern aufs Engste durch Posten und Vetternwirt­schaft mit dem bürokratischen Staatsapparat und der Kirche verwoben und die „Einheit der spanischen Nation“ sowie die Monarchie gehören zu den ideologischen und materi­ellen Grundpfeilern der korrupten politi­schen und wirtschaftlichen Eliten. Sie sieht die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts Kataloniens richtigerweise als Bedrohung ihres gesamten Regimes. Daraus ergibt sich die Aggressivität, mit der der spanische Staat gegen das Referendum vorging.

Die faschistische Franco-Diktatur (selbst das Ergebnis einer verratenen Revolution) wurde in den 1970er Jahren gestürzt. Angesichts der revolutionären Bewegung in Spanien zu jener Zeit konnten sich die Monarchie und der Kapitalismus nur aufgrund des historischen Verrats der Sozialdemokratie (PSOE) und der Kommunistischen Partei am Leben erhalten. Diese stimmten der Verfassung von 1978 zu, die im Artikel 2 die „Einheit der spanischen Nation“ festschreibt. Während in Ländern wie Kanada und Großbritannien die nationale Einheit auf Basis von Wirtschaftswachstum und mit Mitteln der Demokratie durchgesetzt wurde, ist sie in Spanien inhärent mit Autoritarismus verbunden und Ausdruck der historischen Schwäche der spanischen Herrschenden. Trotzki schrieb 1931 über die nationale Frage in Katalonien:

„Im gegenwärtigen Stadium der Entwicklung, bei der jetzigen Verflechtung der Klassenkräfte, erscheint der katalanische Nationalismus als fortschrittlich-revolutionärer Faktor. Der spanische Nationalismus bildet einen reaktionär-imperialistischen Faktor. Ein spanischer Kommunist, der diesen Un­terschied nicht begreift, ihn ignoriert, ihn nicht in den Vordergrund stellt, sondern im Gegenteil seine Bedeutung verwischt, lauft Gefahr, ein unbewusster Agent der spanischen Bourgeoisie zu werden und für die Sache der proletarischen Revolution verloren zu gehen.“ (Trotzki, 17. Mai 1931, aus einem Brief nach Madrid)

Dieses Zitat hat zwei wichtige Aussagen für die heutige Situation in Spanien. Zum einen ist die Errichtung einer Republik, einer spanischen wie katalanischen, eine historische Aufgabe, die nur durch revolutionäre Mittel gegen den größten Widerstand der herrschenden Klasse durchgesetzt werden kann – hier auf den bürgerlichen Staat und seine Parteien zu vertrauen, ist ein schwerer Fehler, der bereits in der Vergangenheit Spaniens mehrmals zu Niederlagen geführt hat, wie etwa in der spanischen Revolution 1936 oder nach dem Sturz der Franco-Diktatur.

Auf der anderen Seite berücksichtigt Trotzki die konkreten Kräfteverhältnis­se der Klassen und die gesellschaftlichen Entwicklungen in Spanien, bevor er daraus schließt, dass die katalanischen nationalen Bestrebungen einen revolutionären Faktor darstellen. Als MarxistInnen verteidigen wir konsequent das Recht auf demokrati­sche Selbstbestimmung von Nationen. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir automatisch die Lostrennung einer Nationalität von einem Staat befürworten. Denn die Gründung eines neuen, bürgerlichen Staates alleine wird die Probleme der unterdrückten ArbeiterInnen einer Nation nicht lösen – er wird lediglich die Flagge, unter der KapitalistInnen weiterhin die Mehrheit der Bevölkerung ausbeuten, wechseln. Daher sehen wir uns genau an, welche Tendenzen in einer nationalen Bewegung vorherrschen. Welche Klasse hat die Initiative auf ihrer Seite, welches Potenzial für die tatsächliche Befreiung steckt dahinter? Die Einheit der arbeitenden Massen über nationale Grenzen hinweg und ihr gemeinsamer Kampf gegen den Kapitalismus sind zentral, um Ausbeutung und Unterdrückung grundlegend zu beseitigen.

Außer Kontrolle

Die Regierungspartei Kataloniens, die PDECAT, ist das Sprachrohr der konservativen Bürgerlichen Kataloniens. Das Interesse der katalanischen Bourgeoisie ist nicht die tatsächliche Loslösung vom spanischen Staat, dessen Konsequenzen große Unsicherheit mit sich bringen, sondern größere politische Autorität und Einflussnahme gegenüber der Zentralregierung in Madrid. Dafür spielten sie schon immer mit nationalistischer Rhetorik. Als sich die konservative Regionalregierung 2011- 2012 jedoch durch Korruptionsskandale und Sparpolitik diskreditierte, gegen die Zehntausende auf die Straße gingen, konnten die kleinbürgerlich-nationalistischen Elemente innerhalb der Partei größeren Einfluss gewinnen und sie setzte immer stärker auf die nationale Karte, um massive Stimmenverluste zu verhindern. Indem sie ein Referendum über die katalanische Unabhängigkeit versprach, konnte sie die links-nationalistische, sozialdemokratische ERC und sogar die antikapitalistische CUP zur Unterstützung oder zumindest Duldung ihrer Regierung bewegen.

Wie schon bei der Abstimmung über Brexit in GB oder der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten, unterschätzten die KapitalistInnen die Eigendynamik ihrer eigenen PolitikerInnen. Insgeheim entsetzt über das Abstimmungsergebnis des Referendums flehen die PDECAT und ihre Verbündeten um eine „friedliche Diskussion“ mit der EU und der spanischen Regierung, um nicht wie vorgesehen innerhalb von 48 Stunden die Unabhängigkeit Kataloniens gegen ihre Klassenbrüder und -schwestern im In- und Ausland erklären zu müssen. Auf der anderen Seite des Konflikts hat die regierende PP in Madrid, die ebenfalls mit Korruptionsvorwürfen zu kämpfen hat und eine Politik der Repression und der Kürzungen verfolgt, gehofft, durch das Aufpeitschen des reaktionären spanischen Nationalismus Stimmen zu gewinnen.

Die Macht der Massen

Die Bewegung ist völlig der Kontrolle der Bürgerlichen in Katalonien und Spanien entglitten. In den großen Protesten gegen Sparmaßnahmen, die ab 2011 die Regierung in die Bredouille brachte, stellten die Massen in Katalonien gemeinsam mit den ArbeiterInnen in Spanien die Regierung in Frage und setzten ihre Hoffnung auf eine linke Regierung unter Podemos, der Partei, die aus diesen Bewegungen hervorging. Als Podemos jedoch keine Mehrheit in Spanien erhielt und die konservative PP im Frühjahr die Zentralregierung übernahm, wuchs die Hoffnung auf eine Unabhängigkeit vom Spanien der Sozialkürzungen und der antidemokratischen Maßnahmen. BefürworterInnen der katalonischen Unabhängigkeit wuchsen von 10-15% auf ca. 50% der katalonischen Bevölkerung. Die brutalen Maßnahmen des spanischen Staates gegen das Referendum spurten die kämpferische Verteidigung desselben zusätzlich an. Der „Blutsonntag“ vom 1.10. hat selbst bisherige BefürworterInnen der Einheit Spaniens massenweise in das unversöhnliche Lager einer republikanischen Unabhängigkeit getrieben.

Es ist signifikant, dass die sich Rhetorik rund um das Referendum weniger um den Nationalismus als um die Republik und die Demokratie zuspitzte. Auch linke Organisationen, die ursprünglich nicht pro- Unabhängigkeit waren, wie Podem (die katalanische Podemos) und Comuns (die Gruppierung rund um die linke Bürger­meisterin Barcelonas, Ada Colau) positionierten sich positiv zum Referendum. Die antikapitalistische CUP, die in der Vergangenheit zwar unter dem Banner des Nationalismus ihre Stimmen der PDCAT für ihr Sparbudget gab, hob sich im Zuge der Bewegung als linke Kraft positiv hervor und kandierte auf ihrem Demonstrationsblock am 11. September (dem katalanischen Unabhängigkeitstag) den Slogan „Nieder mit dem 1978 Regime. Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, Sozialismus und Feminismus“.

Die linke Orientierung mobilisiert auch linke, klassenbewusste ArbeiterInnen und Jugendliche, die den kleinbürgerlichen Nationalismus der PDECAT ablehnen, für die Bewegung. Dies wurde am 11. September deutlich, als sich 12.000, vor allem junge Menschen, bei einer Demonstration der antikapitalistischen CUP und der sozialdemokratischen ERC versammelten und mit erhobenen Fäusten die Internationale sangen.

Wohin?

Die Bedeutung des katalanischen Referendums überschreitet jedoch deutlich die regionalen Grenzen: Laut Umfragen befürworteten immerhin 40% der spanischen Bevölkerung das Selbstbestimmungsrecht Kataloniens. Eine katalanische Republik, umso mehr eine sozialistische, kann ein entscheidender Anziehungspunkt für die gesamte Arbeiterklasse der iberischen Halbinsel werden. Schon jetzt sind der spanische Staat und seine Regierung für ihre Sparpolitik und undemokratischen Maßnahmen verhasst, die sich im Zuge des Referendums nur noch deutlicher zeigten. Ein klar anti­kapitalistisches, sozialistisches Programm für eine Republik würde die unmittelbaren Forderungen und Interessen der spanischen und baskischen Arbeiterklasse ansprechen und mit dem katalanischen Kampf für Unabhängigkeit verbinden.

Die Massenmobilisierung in Katalonien und im restlichen Spanien hat eine enorme Sprengkraft – mit einer korrekten Orientierung und Methodik könnte sie eine Revolution auf der iberischen Halbisel und darüber hinaus initiieren.

Die CUP Parlamentarierin Anna Gabriel sagte korrekterweise: „Die Referen­dum-Verteidigungskomitees sollten sich nicht auflösen. Sie sollten beibehalten werden und sich für den Generalstreik am 3. Oktober einsetzen und zum Embryo der Volksmacht werden“. Dafür sollten sich VertreterInnen der Komitees unmittelbar auf lokaler, regionaler und landesweiter Ebene vernetzen und zu einer gemeinsamen Versammlung zusammenkommen, um der Bewegung einen demokratischen Ausdruck zu geben und die weitere Vorgehensweise zu beschließen. Wenn eine katalanische Republik zustande kommen soll, muss die Bewegung an alle Schichten der Arbeiterklasse appellieren und sich auch mit den existierenden Solidaritätsbewegungen im Baskenland, Galizien, Madrid, Sevilla usw. verbinden. Dafür müssen sie sich auf ein klares Anti-austri­tät, Anti-Regime und antikapitalistisches Programm stützen, das breiten Anklang in der landesweiten Arbeiterklasse finden und die Bewegung gegen die gemeinsamen Feinde vereinen würde.

* Verteidigt das Referendum vom 1. Okto­ber mit revolutionären Mitteln!
* Massenmobilisierung in den Straßen, Verteidigungskomitees überall, Generalstreik!
* Nieder mit der Unterdrückung durch den spanischen Staat, nieder mit dem Regime von 1978!
* Für eine Katalanische Sozialistische Re­publik! Für die Iberische Revolution!

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