Kategorie: Deutschland

Nach dem SPD-Mitgliederentscheid: „Fest der Demokratie“ oder manipuliertes Plebiszit?

Mit dem Ausgang des SPD-Mitgliederentscheids ist nun die letzte Hürde auf dem Weg zu einer „Großen Koalition“ (GroKo) aus CDU/CSU und SPD überwunden. Was sich in den letzten Tagen abgezeichnet hatte, ist nun amtlich. Bei einer hohen Wahlbeteiligung haben knapp 76 Prozent für die Annahme des Koalitionsvertrags gestimmt.


 

Wenig später wurde – wenig überraschend – bekannt, wie die innere SPD-Führung die lukrativen Regierungsämter unter sich aufteilt. Während die Mainstream-Medien den Ausgang des SPD-Mitgliedervotums und vor allem Parteichef Sigmar Gabriel in höchsten Tönen loben, herrscht bei der Minderheit der entschlossenen GroKo-Gegner Enttäuschung. Niedergeschlagenheit und Verwirrung. Manche denken an Austritt. Erste „Abschiedsbriefe“ machen bereits auf Facebook die Runde.

 

Einseitige Kampagne

 

Doch Frust ist immer ein schlechter Ratgeber und ein Austritt ist an sich noch kein revolutionärer Akt. Gerade jetzt sind eine nüchterne Bewertung und Analyse gefragt. Was der künftige „Superminister“ und Vizekanzler Sigmar Gabriel als „Fest der innerparteilichen Demokratie" bezeichnete, war zu allererst ein aus der Not geborener Schachzug der SPD-Spitze, um nach dem zweitschlechtesten SPD-Wahlergebnis bei der „Nachkriegsgeschichte“ die Mitgliedschaft bei Laune zu halten. Eine schonungslose, offene und selbstkritische Diskussion der Ursachen der Wahlschlappe war nicht vorgesehen. „Wir verhandeln den Koalitionsvertrag und Ihr dürft dann darüber abstimmen“, unter diesem Motto wurden die aufgebrachten Mitglieder wochenlang besänftigt, die sich noch gut daran erinnerten, dass die letzte GroKo die 23-Prozent-Niederlage bei der Wahl 2009 bescherte und die Parteiführung jahrelang und bis zum Wahltag den „Politikwechsel“ versprochen und eine GroKo ausgeschlossen hatte.

 

Ebenso war der Mitgliederentscheid eine geschickte und professionell aufgezogene Form gesteuerter Demokratie mit dem von oben gewünschten Ergebnis. Waffen- und Chancengleichheit von Befürwortern und Gegnern des Koalitionsvertrags war von der Regie im Willy Brandt-Haus nie  vorgesehen. So bekamen die Mitglieder fast täglich einseitige E-Mails von Generalsekretärin Andrea Nahles mit Jubelberichten über den Stand der Koalitionsverhandlungen und den Koalitionsvertrag. In parteieigenen Medien wie im Zentralorgan Vorwärts kamen Kritiker so gut wie nicht zu Wort.

 

Perfekte Regie

 

Auch in den zahlreichen Regionalkonferenzen sorgte eine straffe Regie dafür, dass die Befürworter und Promis als Versammlungsleiter und Referenten alle Redezeit der Welt hatten und die Kritiker sich vielfach nur in Frageform und äußern konnten und die Fragen schriftlich eingereicht werden mussten. So beschreibt etwa der frühere Bürgermeister der Kreisstadt Bad Segeberg, Udo Fröhlich, in einem offenen Brief an Sigmar Gabriel seine Eindrücke von Regionalkonferenzen in Schleswig-Holstein. Fröhlich, der 40 Jahre lang Parteifunktionen innehatte, analysiert den Ablauf einer Veranstaltung in Rendsburg folgendermaßen:

 

  • 10 Minuten Begrüßung durch den Kreisvorsitzenden inkl. Empfehlung mit JA zu stimmen
  • 30 Minuten Einführung durch den Landesvorsitzenden inkl. Empfehlung mit JA zu stimmen
  • 5 Minuten (verteilt über den Abend) Vorlesen der Fragen durch den Moderator und
  • 65 Minuten Beantwortung durch Parteiprominente, die ihre „Antworten“ mehrfach inkl. Empfehlung mit JA zu stimmen beendeten.

 

„Parteiischer geht es wohl nicht“; so Fröhlichs Fazit: „Aus meiner Sicht ist das Mitgliedervotum nicht auf demokratischem Wege zustande gekommen.“ In Seminaren für Kommunalpolitiker werde immer der Grundsatz vertreten: „Zur freien Entscheidung gehören zwingend die faire Information über Pro und Kontra und die freie Rede in der Debatte.“ Statt einer Meinungsbildung der Basis gleich nach der Bundestagswahl über die verschiedenen Optionen konzentrierte sich die SPD-Spitze auf die wochenlange Ausarbeitung des Koalitionsvertrags. So habe „nur noch die „unter vorgehaltener Hand“ alternativlose Wahl zwischen JA sagen oder „Vorstand stürzen“ bestanden, kritisiert Udo Fröhlich.

 

Einschüchterung mit Katastrophenszenario

 

In der Tat wurde den SPD-Mitgliedern auch mit Hilfe einer großen medialen Kampagne regelrecht Angst vor einem Nein eingeflößt. Generalsekretärin Andrea Nahles drohte mit Rücktritt der Parteispitze, andere malten ein Katastrophenszenario von baldigen Neuwahlen an die Wand, bei denen die Union die absolute Mehrheit gewinnen und die SPD unter 20 Prozent absacken würde. Medienprofis und Gewerkschaftsführer lobten den Vertrag in höchsten Tönen und übersahen das „Kleingedruckte“ ebenso wie den „Finanzierungsvorbehalt“ oder den offenen Bruch mit dem SPD-Wahlprogramm. Dass die Bundestagsmehrheit von SPD, LINKEN und Grünen die Chance gehabt hätte, die Schnittmengen in den Programmen der drei Parteien im Bundestag noch 2013 rasch umzusetzen und damit Verbesserungen für Millionen Menschen zu erreichen, wurde gezielt ausgeblendet.

 

Zur professionell gelenkten Kampagne gehörte auch, dass vermeintliche Kritiker und „Parteilinke“ rasch umfielen und als „Bekehrte“ plötzlich zu glühenden Anhängern der GroKo wurden. So „outeten“ sich nach einem ersten Überblick unter den Parlamentariern mit Hilde Mattheis (Ulm) und Marco Bülow (Dortmund) letztlich lediglich zwei Bundestagsabgeordnete, dazu drei Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses und je ein Landtagsabgeordneter in Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Insbesondere die Berlinerin Birgit Monteiro war in diesen Wochen so etwas wir Motor und Seele einer Facebook-Seite, auf der sich die GroKo-Gegner vernetzten. Sie war auch maßgeblich an einer Demo vor dem Willy Brandt-Haus beteiligt.

 

Die alte offizielle „SPD-Linke“ glänzte gleichzeitig durch Totalausfall. Das Forum „DL21” und die “Parlamentarische Linke” samt der zugehörigen Promis gaben den GegnerInnen der Großen Koalition keinerlei Orientierung. Überwiegend gingen die als “Parteilinke” angesehenen Persönlichkeiten auf Tauchstation und schwiegen oder wechselten rasch die Fronten und warben für ein JA. Unter den innerparteilichen Gliederungen ragen allerdings die Jusos hervor, die bei ihrem Bundeskongress Anfang Dezember mit breiter Mehrheit ihr NEIN bekräftigten und sich auch nicht von Gabriel bezirzen ließen.

 

Auch beim hessischen SPD-Landesparteitag Ende November blieb die sichtbare Oppositionsrolle wenigen Aktivisten aus Jusos, SPD-Arbeitnehmer-Arbeitsgemeinschaft AfA und einzelnen Frankfurter Ortsvereinen überlassen, die vor einem „Ausverkauf unserer Inhalte und Werte“ durch Schwarz-Rot warnten und im Koalitionsvertrag zentrale Projekte wie Bürgerversicherung und Steuergerechtigkeit vermissten. Zu zentralen Zukunftsfragen wie der Energie- und Europapolitik stünden im Vertrag „nur hohle Phrasen“, so ein Juso. Schon in vier Jahren schwarz-gelber Regierung habe die Union gezeigt, dass Verträge mit ihr „das Papier nicht wert sind, auf dem die Vereinbarungen geschrieben sind“. Wenn es Merkels Machterhalt diene, „würden sie auch den Demokratischen Sozialismus in einen Koalitionsvertrag schreiben“, erklärte der südhessische Juso-Vorsitzende Christian Heimpel.

 

Vergessen wir zudem auch nicht, dass die SPD seit Willy Brandts Zeiten mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder verloren hat und viele kritische Zeit-Genossen, die in früheren Jahrzehnten die Diskussion beeinflussten, nicht mehr „an Bord“ sind. Einer von etlichen, die eigentlich NEIN meinten und am Ende mit JA stimmen, ist Markus Hermann, der im Facebook bekannte: „Leute, ich habe selber auch mit Ja gestimmt und stehe auch dazu, aber habe nicht aus vollen Herzen, sondern schweren Herzens zugestimmt. Man hat sich zwischen Cholera und Pest entscheiden müssen. Versucht es zu akzeptieren, vielleicht wird ja auch gar nicht so schlimm, wie alle das vermuten, jetzt müssen wir alle abwarten wie sich das entwickelt.“

 

80.000 sagten NEIN – was nun?

 

Unter all diesen Umständen ist es kein Wunder, dass die Parteiführung nun das angestrebte Ergebnis im Mitgliedervotum bekommen hat. Es ist vielmehr bemerkenswert, dass sich trotz aller widrigen Umstände immerhin 80.000 Mitglieder nicht manipulieren, beirren, einschüchtern und erpressen ließen und mit NEIN stimmten. Dass sind deutlich mehr als die 21.000, die 2003 ein Mitgliederbegehren gegen Gerhard Schröders „Agenda 2010“ unterschrieben und es sind auch noch mehr als die derzeit 63.000 Mitglieder der Partei DIE LINKE.

 

Die meisten dieser 80.000 Mitglieder, die auf die amtliche Propaganda nicht hereingefallen sind und einen grundlegenden politischen Kurswechsel wollen, sind aber voneinander isoliert und nicht als innerparteiliche Opposition organisiert und vernetzt. Als verstreute, anonyme und frustrierte Masse ohne Programm, Organisation, Struktur und selbstlose SprecherInnen werden sie wenig erreichen. Als geballte Kraft könnten sie in diesem Lande gemeinsam mit den Mitgliedern der LINKEN und kritischen, parteilosen Gewerkschaftern etwas anstoßen. Es ist Zeit für eine Rückbesinnung auf die marxistischen Traditionen der alten Sozialdemokratie und vor allem auf den Kampf von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gegen den schon vor einem Jahrhundert im damaligen Parteivorstand um sich greifenden Opportunismus und Karrierismus.

 

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