Kategorie: Deutschland

Gab es sie wirklich - die "guten alten Zeiten" unter Willy Brandt und Helmut Schmidt?

Angesichts der anhaltenden Krise der deutschen Sozialdemokratie denken viele ältere Arbeiter und Rentner wehmütig an die Zeiten früherer SPD-Regierungen der 60er und 70er Jahre zurück.


Manche sehen gar in dem neuen SPD-Vorsitzenden Norbert Walter-Borjans die Wiedergeburt Willy Brandts. Doch gab es sie tatsächlich, die "guten alten Zeiten" unter den SPD-Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt? Woher kommt diese Nostalgie? In erster Linie dadurch, dass jene Periode – vor allem von 1969 bis 1972 – mit Erinnerungen an handfeste und spürbare soziale Errungenschaften verbunden ist und als solche im kollektiven Gedächtnis einer älteren Generation erhalten ist.

Im Dezember 1966 hatte die SPD mit der Union eine Große Koalition unter CDU-Kanzler und Ex-Nazi Kurt Georg Kiesinger gebildet- Dies führte zunächst zu einer Entfremdung von der SPD bei Teilen der Arbeiterklasse und Jugend. Dies kam in teilweise herben Verlusten bei den Landtagswahlen 1967-68 zum Ausdruck. Troztdem galt die SPD unter Willy Brandt 1969 als Hoffnungsträgerin vieler Arbeiter, die mehr "innere Reformen" und ein Stück "Machtwechsel" propagierte. Mit der Bildung der SPD-FDP-Regierung nach der Bundestagswahl 1969 wurde Brandt schließlich zum Kanzler gewählt. Die CDU/CSU musste nach 20 Jahren auf den Oppositionsbänken Platz nehmen.

Unter Brandts Kanzlerschaft wurden viele längst überfällige Sozialreformen umgesetzt, die spürbare Verbesserungen im Leben der arbeitenden Bevölkerung mit sich brachten: sechs Wochen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, mehr Mitbestimmungsrechte im Betrieb, mehr Chancengleichheit im Bildungswesen, BaföG, sozialer Wohnungsbau, um nur einige zu nennen. Doch die FDP als kleine Partei des großen Geldes sorgte stets dafür, dass trotz "Reformfreudigkeit" die Interessen der herrschenden Klasse nicht verletzt wurden.

SPD-Wahlsieg 1972

Im April 1972 wollte die durch einige Überläufer im Bundestag erstarkte CDU/CSU per Misstrauensvotum den amtierenden Bundeskanzler Brandt stürzen. Dies löste spontan eine breite Empörung und eine Welle von Solidaritätsstreiks in Großbetrieben und spontanen Protestkundgebungen aus. Innerhalb einer Woche gab es 60.000 Neueintritte in die SPD. Nach dem Scheitern des Misstrauensvotum kam es im November 1972 zu Neuwahlen. Dabei erreichte die SPD mit knapp 46 Prozent das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte. Der SPD-Wahlsieg war für die CDU/CSU die bis dahin größte politische Niederlage in der Nachkriegszeit. Und das ganze bei einer Wahlbeteiligung von über 90 Prozent – einem Rekordwert, der nie wieder erreicht wurde. Damit hatten Willy Brandt und die SPD bundesweit knapp 42 Prozent aller Wahlberechtigten hinter sich und einen absoluten historischen Höhepunkt erreicht. Dass die Partei bei der jüngsten Bundestagswahl im September 2017 bundesweit mit einem Ergebnis von 20,5 Prozent der abgegebenen Stimmen nur noch von knapp 16 Prozent der Wahlberechtigten angekreuzt wurde, verdeutlicht den dramatischen Niedergang und erklärt den nostalgischen Rückblick auf "gute alte Zeiten mit Willy".

Die Protestbewegung von 1968 und internationalen Klassenkämpfe führten zu einer Belebung und einem Linksruck von Jusos und SPD. So wurden nicht nur bei Juso-Bundeskongressen, sondern auch bei SPD-Parteitagen linke Beschlüsse gegen den Willen der Parteiführung gefasst: So beschloss der Landesparteitag der SPD Nordrhein-Westfalen 1973 die Forderung nach Verstaatlichung der Banken und der Bundesparteitag der SPD 1973 die Forderung nach Verbot der privaten Wohnraumvermittlung durch Makler.

Brandt stand für eine Entkrampfung der Beziehungen der BRD zu den damaligen stalinistischen Staaten Osteuropas. Das brachte ihm den Hass führender Funktionäre in den Vertriebenenverbänden. Doch entscheidende Teile der Kapitalistenklasse konnten unterdessen mit der neuen "Ostpolitik" gut leben. Viele von ihnen sahen hier den Zugang zu neuen Märkten in Osteuropa. Ihre konservativen Vertreter der CDU/CSU waren hier Gefangene ihrer eigenen jahrzehntelangen Propaganda und der Vertriebenenverbände. Diese wollten sich nicht damit abfinden, dass die ehemaligen deutschen Ostgebiete als Ergebnis des Zweiten Weltkriegs nun zu Polen und zur Sowjetunion gehörten. Eine Kehrseite des „Aufbruchs“ zu „Frieden und Fortschritt“ und der Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zu den stalinistischen Staaten Osteuropas war die fortgesetzte antikommunistische Ausgrenzungspolitik nach innen. 1972 verfügten die Ministerpräsidenten der Länder zusammen mit Brandt den sogenannten „Radikalenerlass“, der Mitgliedern linker Organisationen den Zugang zum Öffentlichen Dienst versperrte, weil sie angeblich „keine Gewähr“ boten, jederzeit „für die Freiheitlich-Demokratische Grundordnung“ einzustehen. Dies zerstörte für viele tausend junge Lehrer, Postler und Eisenbahner den Berufs- und Lebensweg.

Doch nicht nur die Präsenz der FDP in der alten und neuen Regierung sorgte dafür, dass der “Sozialismus” ausblieb und die Hoffnungen der Basis enttäuscht wurden. Schon die zweite Regierungserklärung  Brandts dämpfte alle weitgehenden Reformerwartungen. Als im Sommer 1973 vor dem Hintergrund explosionsartig gestiegener Unternehmensgewinne eine Welle spontaner und inoffizieler Streiks gegen die steigende Inflation ausbrach, distanzierte sich Brandt von dieser Streikbewegung und rief zur Mäßigung auf: "Dies ist nicht die Stunde hoher Forderungen".

Von Brandt zu Schmidt: Ende der Reformphase

Im Mai 1974 trat Brandt zurück. Dies hatte jedoch nur oberflächlich mit der Enttarnung seines persönlichen ReferentenGuillaume als DDR-Spion zu tun. Die Übernahme der Kanzlerschaft durch Helmut Schmidt markierte das Ende einer kurzen Phase zaghafter sozialdemokratischer Reformpolitik. Schmidt rief nun die Arbeiter dazu auf, "den Gürtel enger zu schnallen". "Über Jahre hinaus wird es keine Reformen mehr geben", erklärte Schmidts Finanzminister Hans Apel. Die Rezession 1974/75 markierte einen Wendepunkt in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte. Die Arbeitslosenzahl erreichte erstmals seit Jahrzehnten wieder die Millionenmarke. Die neue SPD-FDP-Regierung Schmidt/Genscher vertrat nun die Positionen des Unternehmerlagers gegen die Forderungen von Arbeitern und Gewerkschaften.

Die CDU/CSU, die bei der Bundestagswahl 1976 nur knapp die absolute Mehrheit verpasste, erlangte im selben Jahr diese Mehrheit im Bundesrat. Sie diktierte der Bonner SPD-/FDP-Regierung mehr oder minder die politische Linie auf: So kam es etwa zu einem Abbau demokratischer Rechte unter dem Vorwand von "Anti-Terror-Gesetzen", zu einem Ausbau der Kernenergie, weniger Sozialleistungen sowie zu verstärkter Aufrüstung im Rahmen des NATO-Doppelbeschlusses. Dies führte zu einem Einbruch der SPD bei Landtags- und Kommunalwahlen seit 1974.

Brandt blieb allerdings bis 1987 SPD-Vorsitzender und hielt in dieser Funktion der Regierung Schmidt den Rücken frei. Daneben konzentrierte er sich von 1976 bis zu seinem Todesjahr 1992 auf den Vorsitz der "Sozialistischen Internationale". Er zähmte eine ganze Generation jüngerer sozialistischer Parteiführer in Südeuropa und anderswo und trug dazu bei, dass ihre revolutionären Reden folgenlos blieben. Viele Jugendliche, die 1972 zur SPD gestoßen waren, wandten sich im Zuge der Friedens-, Umwelt- und Anti-Atomkraft-Bewegung ab Ende der 1970er Jahre enttäuscht von dieser ab und suchten sich eine neue politische Heimat. Im Grunde war SPD-Kanzler Helmut Schmidt der "Vater" der neuen Partei Die Grünen.

1980: Stoppt Strauß!

1980 brachte sich der rechtslastige CSU-Chef und bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß als Kanzlerkandidat der Unionsparteien für die Bundestagswahl 1980 in Stellung. Diese brachte eine starke Polariserung und neue Siegeschancen der SPD mit sich. Bei der Wahl verfehlte Strauß sein erklärtes Ziel einer absoluten CDU/CSU-Mehrheit. Die SPD-FDP-Regierung Schmidt-Genscher wurde fortgesetzt. Zwar wurde Strauß gestoppt, doch die Probleme blieben. Die kurz darauf hereinbrechende Rezession brachte eine Arbeitslosigkeit von über zwei Millionen mit sich. Nun machte sich die Bonner Regierung an die Arbeit, den Sozialstaat weiter abzubauen. Dass die Gewerkschaftsbasis unruhiger wurde, machte eine regionale DGB-Demo Ende 1981 in Stuttgart mit über 70.000 Beteiligten gegen diesen Regierungskurs deutlich. Nun begannen auch einige SPD-Parlamentarier und Politiker ein Ende dieser unsozialen Sparpolitik zu fordern.

Nun war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die FDP als Arm des Großkapitals den "Vorrat an Gemeinsamkeiten" als erschöpft ansah und mitten in der Legislaturperiode mit dem strikt neoliberal inspirierten "Lambsdorff-Papier" den Bruch der Koalition provozierte. Mitte September 1982 warf SPD-Kanzler Schmidt die FDP-Minister rauswarf und warnte vor einer Zerstörung des Sozialstaats.

FDP bringt Kohl an die Macht

Im Herbst 1982 kam, was kommen musste: FDP und Union waren sich einig, stürzten Schmidt per konstruktivem Misstrauensvotum und wählten CDU-Kanzler Helmut Kohl ins Amt. Der sozialdemokratische Kanzler Schmidt wurde für seine unternehmerfreundliche Politik mit einem "Tritt in den Hintern" belohnt. Aus der von der Regierung Kohl angestrebten Neuwahl ging die CDU/CSU mit 48 Prozent klar als Sieger hervor. Die SPD verlor massenhaft Wähler an die CDU/CSU und konnte kein wirkliches Programm gegen die Arbeitslosigkeit anbieten. "Die haben haben doch einen besseren Draht zur Wirtschaft; velleicht können die die Arbeitslosigkeit abbauen", dachte sich mancher von der SPD enttäuschter Arbeiter.

Die SPD hatte sich durch die Regierungspolitik so stark ihre eigene Basis untergraben, dass sie erst eine halbe Generation später wieder in die Bundesregierung einzog. Es blieb der 1998 gewählten "rot-grünen" Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) vergönnt, mit Sparpaketen, Riester-Rente und Agenda 2010 wesentliche Forderungen des Lambsdorff-Papiers umzusetzen.

Dies zeigt uns: Das Schwärmen von SPD-Regierungsjahren 1969-82 ist nicht mehr als Nostalgie und Sehnsucht nach einer heilen sozialdemokratischen Welt, die so nie bestanden hat. Vergessen wir nicht, dass nachhaltiger Wirtschaftsaufschwung, „Sozialpartnerschaft“ und „soziale Verantwortung“ des Kapitals im 21. Jahrhundert endgültig der Vergangenheit angehören und damit auch der Nährboden für eine staatstragende und kapitalismusfreundliche Sozialdemokratie erodiert ist. Träumen wir nicht von den unwiederbringlichen "guten alten Zeiten". Jede noch so kleine Reformforderung stößt heute auf Kritik, Widerstand und Sabotage der Herrschenden, die sich mit Händen und Füßen gegen jeden Eingriff in ihre Profite wehren.

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