Kategorie: Deutschland

SPD-Basis will "mehr Sozialdemokratie wagen" - Führungsclique nominiert sich selbst

Die historische Wahlniederlage der SPD bei der Bundestagswahl hat an der Parteibasis bundesweit (selbst-)kritische Diskussionen ausgelöst. Doch anstatt erst einmal die Ursachen zu erforschen, politische Konsequenzen zu ziehen und von der Agenda 2010 abzurücken, hat ein kleiner Kreis an der Parteispitze erst einmal die neu zu vergebenden Ämter des inneren Führungszirkels unter sich aufgeteilt.



Diese Fixierung auf Köpfe statt auf Inhalte spricht Bände und hat Tradition. In den letzten 20 Jahren hat die SPD in Rekordgeschwindigkeit zehnmal den Vorsitzenden ausgetauscht und dadurch eine offensichtliche Krise zu überwinden versucht. Mit dem sattsam bekannten Ergebnis, dass mit dem neuen Kopf an der Spitze nichts gelöst wurde und die Probleme sich weiter massiv angehäuft haben. Der letzte SPD-Parteivorsitzende, der unter "normalen" Umständen, in Ehren, mit erhobenem Haupt und aus Altersgründen ausschied und das Amt einem Jüngeren übergab, war übrigens Hans-Jochen Vogel, der als Nachfolger von Willy Brandt die Partei von 1987 bis 1991 führte.

Mit Agenda-Architekt Frank-Walter Steinmeier als Fraktionschef im Bundestag, dem designierten neuen Parteichef Sigmar Gabriel und dem als Partei-Vize vorgesehenen Olaf Scholz sind nach wie vor maßgebliche Macher und Unterstützer der Agenda 2010 und für den Niedergang der Partei Verantwortliche für neue hervorgehobene Führungsposten gesetzt. Gabriel ist ein Ziehsohn Schröders aus Niedersachsen. Scholz hatte als Tagungsleiter beim Hamburger SPD-Bundesparteitag 2007 mit Tricks und Kniffen eine von der Mehrheit der Delegierten gewollte klare Beschlussfassung gegen die Bahnprivatisierung verhindert und sich 2003 als glühender Agenda-Anhänger engagiert. Was für ein politischer und personeller Neuanfang!!!

Die designierte Generalsekretärin und "Parteilinke" Andrea Nahles hätte diesen Posten schon vor vier Jahren haben können. Ende Oktober 2005 nämlich wurde sie von einem gewählten Parteivorstand mit klarer Mehrheit als Generalsekretärin nominiert. Weil damals die rechte Hand des Parteichefs Franz Münteferings, Kajo Wasserhövel, durchfiel und Nahles sich mit 24 zu 11 Stimmen durchsetzte, trat Müntefering unverzüglich als Parteichef zurück. Dies schockierte Andrea Nahles und andere "Parteilinke" im Vorstand so sehr, dass sie schlagartig auf Tauchstation gingen. Als auch Noch-Kanzler Gerhard Schröder die Nominierung heftig kritisierte, zog Andrea Nahles schließlich kleinlaut ihre Kandidatur wieder zurück und fügte sich der Disziplin der wenig später besiegelten CDU/CSU/SPD-Koalition.

Für SPD-Vorstandsmitglied Hermann Scheer ist das neue Personaltableau ein "bisher einmaliger Akt der Selbstnominierung einer neuen SPD-Parteiführung durch einen kleinen, von niemandem autorisierten Personenkreis." Damit sei "überfallartig" jedwede Willensbildung in den Parteigremien übergangen worden. Dies widerspreche allen demokratischen Gepflogenheiten und Regeln, sagte Scheer auf stern.de.

Die (inoffizielle) "Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokraten in der SPD" möchte nach eigenen Angaben "mehr Sozialdemokratie wagen" und fordert, dass der kommende Bundesparteitag keine neue Führung wählt, sondern eine konsultative Mitgliederbefragung über die von den Delegierten des Parteitags vorgeschlagenen Kandidaturen und eine Beteiligung der Parteigliederungen an der inhaltlichen Ausgestaltung unserer Politik einleitet.

Die hektischen Personalentscheidungen an der Spitze können nicht den Blick auf eine zunehmend kritische Stimmung in den SPD-Untergliederungen versperren. Auch in Rheinland-Pfalz, wo die Partei unter Ministerpräsident Kurt Beck seit 2006 mit absoluter Mehrheit regiert, war der Absturz auf nur noch 23,8 Prozent der Zweitstimmen am vorletzten Sonntag besonders schmerzhaft. Weil die SPD-Mitglieder in großer Mehrheit "die politische Schieflage, insbesondere bei der Rente ab 67 und Hartz IV, nicht mit tragen", fordert der rheinland-pfälzische Landesvorstand der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) weit reichende Konsequenzen. So müssten Vorstand und Präsidium der SPD sofort geschlossen zurücktreten. Der neu gewählte Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier solle den Weg für einen Nachfolger ohne Agenda-Vergangenheit freimachen. In der Satzung müsse verankert werden, "dass auf allen Parteitagen nur noch 50% Berufspolitiker aller Art vertreten sein dürfen".

Die SPD müsse "wieder die Frage nach der gerechten Vermögensverteilung stellen und soziale Sicherung garantieren", forderte Michael Simon, Landessprecher des Forums Demokratische Linke 21 in Rheinland-Pfalz. Die Partei brauche jetzt "eine intensive Diskussion über ihre inhaltliche, strategische, personelle und organisatorische Erneuerung" und könne "nur als linke Kraft wieder erfolgreich" sein. Dazu gehöre vor allem eine "Abkehr von der Basta-Politik, wie sie Schröder, Müntefering und Clement in der Partei und zum Schaden der SPD verankert" hätten, erklärte Simon. Die SPD-Linke hofft nach Simons Angaben, dass die neue Partei- und Fraktionsführung mit der Linkspartei trotz Konkurrenzsituation inhaltliche Übereinstimmungen sucht und "im Interesse des sozialen Fortschritts nach Möglichkeit kooperiert".

Auch in der Hessen-SPD, die am vorletzten Sonntag auf 25,6 Prozent zurückgeworfen wurde, melden sich kritische Stimmen zu Wort. "In der Ära Müntefering wurden in kleinen Kungelzirkeln einzelne Pesonalentscheidungen ausgeknobelt und durch Parteitage abgenickt", kritisierte Juso-Landeschef Björn Spanknebel in der "Frankfurter Rundschau". Die Bundes-SPD könne "von Hessen lernen", erinnerte Spanknebel an die Landtagswahl Anfang 2008, als seine Partei mit einem etwas linkeren Programm der "sozialen Moderne" gegen den Bundestrend gut acht Prozent hinzugewonnen habe. Leider habe die SPD-Führung in Berlin neue Denkansätze wie die Bürgerversicherung und ein Umsteuern auf regenerative Energien "nicht gewollt", beklagte der Juso-Landeschef. Er forderte eine herausgehobene Rolle für die frühere SPD-Landesvorsitzende Andrea Ypsilanti, die vor knapp einem Jahr mit dem Versuch einer rot-grünen Regierungsbildung mit Tolerierung durch die LINKE an vier Abweichlern in den eigenen Reihen gescheitert war. Die Bundespartei habe damals für das Gelingen des angedachten Regierungswechsels "nichts getan", kritisiert Spanknebel diplomatisch. Denn der rechte SPD-Flügel hat damals offenbar auf einen Sturz Ypsilantis gesetzt.

Ypsilanti, die seit der Landtagsneuwahl Anfang 2009 zurückgezogen auf der Hinterbank sitzt und auf bessere Zeiten wartet, hat noch zahlreiche Fürsprecher in der Landes-SPD. So plädierten auch die Landtagsabgeordneten Reinhard Kahl, Thomas Spies und Norbert Schmitt dafür, dass Ypsilanti wieder eine stärkere Rolle spielen solle. Die Partei dürfe "Ypsilanti nicht in der 3. oder 4. Reihe sitzen lassen", forderte Schmitt. Sie sei "eine der stärksten Politikerinnen, die wir haben", bekannte Spies.

Dass der Name Ypsilanti ins Gespräch gebracht wurde, ist nicht nur der Sehnsucht nach den "guten alten Zeiten" Anfang 2008 geschuldet. Offensichtlich wollen Ypsilantis Anhänger ihr den Weg für ein faktisches Comeback in der Bundespartei ebnen. Bisher sitzt die 52-Jährige im 45-köpfigen SPD-Bundesvorstand und im Präsidium, dem engeren Führungsgremium der Partei. Dass sie wieder ins Präsidium einziehen möchte, ließ Ypsilanti inzwischen dementieren. Unklar ist allerdings, ob sie im November nicht doch wieder für den Parteivorstand kandidiert.

Die Diskussionen, die jetzt nach einer ersten "Schockstarre" in vielen SPD-Untergliederungen ausgebrochen sind, versprechen eine turbulente Aussprache beim kommenden Bundesparteitag Mitte November in Dresden. "Die scharfe Abgrenzung von und das Ausschließen einer Zusammenarbeit mit der Linkspartei hat die SPD in eine strategische Sackgasse manövriert", heißt es in einem Initiativantrag, den kritische Delegierte beim Parteitag einbringen wollen. Die SPD müsse wieder den "breiten Schulterschluss mit den Gewerkschaften" suchen. Möglichen Koalitionen links von Union und FDP in den Ländern dürften keine Steine in den Weg gelegt werden.

Wir werden mit Spannung und Sympathie jeden Versuch linker Sozialdemokraten verfolgen, die Partei von der Agenda-Politik abzubringen, die ihr die historische Niederlage vom 27. September eingebracht hat. Es bleibt abzuwarten, ob sich die kritischen SPD-Mitglieder von den Posten-Deals zwischen "Seeheimern", "Netzwerkern" und "Linken" an der Spitze einlullen lassen und ob die Delegierten beim kommenden Bundesparteitag Mitte November in Dresden selbstbewusst und organisiert von unten auftreten und ihren Willen gegen die Mauscheleien von oben durchsetzen.

Sieben Jahre Schröder-Regierung mit Agenda 2010, Hartz-Gesetzen und Kriegseinsätzen und dann noch einmal vier Jahre Schwarz-Rot haben der SPD beinahe das Genick gebrochen. Ohne konsequenten Bruch mit dieser Politik und ihren Verantwortlichen und Mitläufern und eine Rückkehr zu den sozialistischen Ursprüngen der Arbeiterbewegung wird es für die traditionelle Arbeiterpartei SPD keinen echten Neuanfang geben.

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