Kategorie: Deutschland

5 Jahre Hartz IV: Eine soziale Bauchlandung

Am 1. Januar 2005 trat die Hartz-IV-Reform in Kraft. Das vierte Gesetz zur Arbeitsmarktreform, die von der Hartz-Kommission im Auftrag der rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder entwickelt worden war, sah weitreichende Änderungen bei der Arbeitslosenversicherung vor. Hartz IV ist zu einem Synonym für Verelendung der Menschen und prekäre Arbeitsverhältnisse geworden. Fragen an Veit Wilhelmy, fraktionsloser Stadtverordneter und Gewerkschaftssekretär der IG BAU in Wiesbaden.



Der Wirtschaftsweise Wolfgang Franz hat Anfang des Jahres vorgeschlagen, Hartz IV-Empfänger zur Arbeit zu verpflichten und den Regelsatz um mehr als 30 Prozent zu senken. Was halten Sie davon?

Herr Franz sollte sich in Grund und Boden schämen. Solche realitätsfernen und menschenverachtenden Forderungen können nur von einem überbezahlten, neoliberalen Schreibtischjobber erhoben werden. Mehr brauch man dazu nicht zu sagen.

Seit fünf Jahren ist Hartz IV Gesetz. Die sogenannte „Arbeitsmarktreform“ im Rahmen der Agenda 2010 sollte die Arbeitslosigkeit in Deutschland bis zum Jahr 2010 spürbar senken. Welche Bilanz ziehen Sie zum Jahresbeginn 2010?

Senkung der Arbeitslosigkeit? Genau das Gegenteil ist gekommen: Tatsächlich gibt es heute eine höhere Arbeitslosigkeit, trotz politisch manipulierter Eingriffe in die so genannten Statistiken. So fallen etwa Ein-Euro-Jobber aus der Statistik raus. Es gibt heute viel mehr prekäre Beschäftigungsformen wie Leiharbeit, Scheinselbstständigkeit, 400-Euro-Jobs und befristete Arbeitsverträge. Kurz gesagt: Eine sozial- und beschäftigungspolitische Bauchlandung auf ganzer Linie.

Kritiker beschrieben die Hartz-Gesetze schon 2004 als „Zusammenfassung aller reaktionären Tendenzen der Arbeitsmarktpolitik in einem Gesetzespaket aus einem Guss“. Teilen Sie diese Ansicht?

Ja, das kann ich auch unterschreiben. Neoliberalismus im perfektionierten Ausmaß.

Hartz IV sollte „fördern und fordern“. Hat das funktioniert?

Plastisch gesprochen: „fördern“ nein – „fordern“ ja. Oder: 10% „fördern“ und 90% „fordern“. Es wird gesetzlich legitimiert, stärker denn je Erwerbslose systematisch unter Druck zu setzen. Sie werden in Ein-Euro-Jobbs gezwungen, meist ohne weitere Perspektive, oder sie müssen jegliche „zumutbare“ Arbeit annehmen, auch wenn sie weiter dann so genannte „Aufstocker“ bleiben oder werden. Die Angst bei den Arbeitsplatzinhabern ist ernorm gewachsen. Dies steigert ihre Erpressbarkeit in den Betrieben mehr denn je.

Befürworter der Hartz-Gesetze begrüßten die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und die „Hilfe aus einem Guss“. Was versprach man sich davon und wie ist die Bilanz?

Ich kann diese Ablenkungsdebatten nicht mehr hören. Was für eine fulminante „Leistung“, die Zusammenlegung von Leistungen. Hat die Zusammenlegung nur einen Arbeitsplatz gebracht, von dem ein Arbeitnehmer leben kann? Nein!

Ein-Euro-Jobs sollten Langzeitarbeitslosen durch gezielte Förderung eine Chance zur Rückkehr in den 1. Arbeitsmarkt geben? Haben sie das wirklich getan?

Im Kern nicht. In den meisten Fällen bewirken sie sogar genau das Gegenteil. Die Betroffenen sind und werden stigmatisiert, verbleiben meist in der Perspektivlosigkeit und gehen von einer „Maßnahme“ zur nächsten.

Die „Optionskommune“ Wiesbaden hat Schlagzeilen gemacht, weil Kritiker der Stadtverwaltung einen massenhaften Mißbrauch von Ein-Euro-Jobs vorwerfen.

Wiesbaden schießt bundesweit im negativen Sinne den Vogel ab. Es hat mit 4,7% die höchste Sanktionsquote gegen „erwerbsfähige Hilfebedürftige“, der Bundesdurchschnitt liegt hier bei 1,9%. In Wiesbaden sind 600 versicherungspflichtige Arbeitsplätze durch den massenhaften Einsatz von jährlich über 3000 sogenannten „Beschäftigungsmaßnahmen“ mit dem Einsatz von Euro-Jobbern vernichtet worden. Wiesbaden hat die mit Abstand schlechteste Vermittlungsquote von Ein-Euro-Jobbern auf den ersten Arbeitmarkt: von 43 Ein-Euro-Jobbern bekommt nur einer einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt. Dies ist dann meist aber nur ein 400-Euro-Job.

Die Hartz-Gesetze haben auch zu einer Schwächung der Gewerkschaften geführt. Wie setzten sich die Wiesbadener Gewerkschaften mit dem Problem der Vernichtung regulärer Arbeitsplätze seit der Einführung von Ein-Euro-Jobs auseinander?

Die große Mehrheit der ehrenamtlichen und hauptamtlichen Gewerkschafter in Wiesbaden lehnt die Vernichtung von regulärer Beschäftigung durch „Arbeitsgelegenheiten“ kategorisch ab. Es gibt leider einige wenige, meist sozialdemokratische Funktionäre, die die Verhältnisse beschwichtigen oder glatt ignorieren. Sie haben sich aber selbst mehrfach gewerkschaftspolitisch disqualifiziert.

Maßgebliche kommunale Akteure, etablierte Parteien von CDU über SPD bis zu den Grünen, wirtschaftliche Eliten und Medien wollen unbedingt, dass Wiesbaden seinen Status als „Optionskommune“ behält und weiterhin ausschließlich für die Betreuung von Empfängern des Arbeitslosengeldes II zuständig ist. Welches Interesse steckt dahinter?

Das liegt an mehreren Gründen. Einer ist sicherlich der, dass kaum ein Kommunalpolitiker zugeben will, dass Wiesbaden beschäftigungspolitisch auf dem Holzweg ist. Ein anderer ist deren These, dass Hartz IV mit den Ein-Euro-Jobs richtig ist. Auch spielt eine machtpolitische Dimension eine wichtige Rolle: Optionskommune bedeutet größere personelle Ausstattung aus Bundesmitteln im Bereich der Verwaltung. Und zuletzt geht es ihnen um eine Zurückdrängung des Einflusses der Agentur für Arbeit vor Ort.

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