Kategorie: 1918

„Im Westen nichts Neues“: Brutale Geschichtsverfälschung

Die Netflix- Neuverfilmung sorgt nach dem Gewinn von 4 Oscars derzeit für Schlagzeilen. Doch unter der oberflächlichen Effekthascherei des technisch gelungenen Films findet sich wenig Tiefgang, dafür umso mehr Geschichtsverfälschung.

Netflix / "Im Westen nichts Neues"


Achtung: Spoiler zu Film und Buch!

Man soll ja immer mit dem Positiven beginnen. Und in diesem Sinne kann man neidlos feststellen, dass Regisseur Edward Berger einen technisch gut gemachten Film abgeliefert hat. Dass die Geschichte des deutschen Soldaten Paul Bäumer und seiner Kameraden an der Westfront des 1. Weltkrieg dabei aber inhaltlich nicht mehr viel mit der Romanvorlage von Erich Maria Remarque zu tun hat, haben schon verschiedenste Kritiker festgestellt. Doch es lohnt sich, ein wenig in die Tiefe zu blicken. Was wurde verändert, und was sind die Auswirkungen?

Die gezeigten Bilder sind brutal. Ein Soldat wird von einem Panzer überrollt, ein anderer verbrennt bei lebendigem Leib. Körper(teile) fliegen, Blut fließt, in diesem Sinne steht der neue Film dem Buch um nichts nach – im Gegenteil: Viele Szenen werden für oberflächliche visuelle und emotionale Effekthascherei überzeichnet. Der im Buch gescheiterte Selbstmordversuch eines mehr oder minder unbekannten verzweifelten Verwundeten mit einer Gabel, den Paul nebenbei mitbekommt wird so im Film zum vollzogenen Selbstmord eines engen Freundes, der in Pauls Armen stirbt.

Doch in anderen Aspekten ist der Film weichgespült. Der Tod ist ein ständiger Begleiter für die Soldaten. Aber er kommt fast immer schnell und, soweit man diese Beschreibung im Lichte des oben beschriebenen benutzen kann, „sauber“. Im Buch dagegen quälen etwa die Schreie eines Sterbenden, der nicht geborgen werden kann, tagelang die Soldaten. Verwundete sterben teilweise Wochen später an ihren Wunden, andere verzweifeln an ihren dauerhaften Entstellungen. Das ist ein wichtiges Motiv im Buch: „Erst das Lazarett zeigt, was Krieg ist“. Die langen, erschütternden Passagen dazu sind im Film fast komplett herausgestrichen worden. Ebenso die Passagen aus dem Heimaturlaub von Paul, bei dem er merkt, dass der Krieg ihn tiefer gezeichnet hat, als er sich wahrhaben wollte, wie wenig er sich zurechtfindet, aber auch wie elendig die soziale Situation „daheim“ ist.

Ins Auge fällt etwa schnell für Kenner des Buches auch schnell, dass im Film keine leidenden Tiere gezeigt werden. Im Buch sterben einige Pferde langsam und qualvoll nach einem Artillerieangriff. In einer Szene, die sowohl im Buch als auch im Film vorkommt, drischt Paul im Buch die Köpfe von zwei Gänsen, die er stehlen will, im Versuch sie zu betäuben „wie verrückt“ gegen die Wand, und schießt dann auf einen Hund, um zu entkommen. Die daran angelehnte Szene im Film ist eine Flucht, bei der keine Tiere (sichtbar) verletzt werden, dafür aber ein Bauer auf die beiden Soldaten schießt.

Hier sieht man schon, was eine zentrale Schwäche des Films ist: Er tut sich leicht damit, visuell zu schocken, aber Berger hat offensichtlich eine Heidenangst davor, gesellschaftlich unangenehme oder gar kontroverse Dinge zu zeigen. Eine Szene, in der sich junge Französinnen aus Hunger für ein Brot und ein Stück Wurst prostituieren, wird im Film zu einer gesellschaftspolitisch harmlosen Liebelei eines Soldaten, der als Andenken das Tuch seiner Geliebten mitbringt. Russische Kriegsgefangene, die die Mülltonnen der schon schlecht versorgten deutschen Soldaten nach einem Stück verschimmelter Brotrinde durchwühlen und von manchen von den deutschen Soldaten dafür getreten werden, kommen nicht vor.

Wenn Oscars gewonnen werden wollen, dürfen offensichtlich gewisse Grenzen nicht überschritten werden. Doch indem all diese „unsauberen“ Aspekte herausgenommen werden, bleibt eine verklärte, oberflächliche, in gewisser Weise sogar romantisierte Version des 1. Weltkrieges übrig.

Mehr Politik von oben, aber keine Politik von unten

Einen Handlungsstrang, den Berger hinzufügt, sind die Waffenstillstandverhandlungen, geführt vom Zentrumspolitiker Mathias Erzberger. Dessen Darstellung als „moralischer Friedenssucher“ ist an sich schon Propaganda und wäre eine eigene Kritik wert, die jedoch den Rahmen sprengen würde. Hier nur so viel: Der Waffenstillstand wird beschlossen und soll wenige Stunden später in Kraft treten.

Wer den Film noch nicht gesehen hat, kann hier aufhören zu lesen, aber wird nicht weiter überrascht sein: Die Soldaten feiern zu früh, der zuvor schon eingeführte unsympathische Offizier befiehlt nach Verkündung des Waffenstillstandes, aber vor dessen Inkrafttreten einen letzten Angriff. Zwei Murren und werden gleich erschossen, aber die anderen fügen sich desillusioniert, und Paul wird erwartungsgemäß in der letzten Sekunde vor Inkrafttreten des Waffenstillstandes getötet. Damit wird der Film von einem aus einem dramatisch überzeichneten Spektakel zu offener Geschichtsfälschung, die gleichzeitig mit dem Geist des Buches oder der Realität nichts mehr zu tun hat.

Hier müssen wir einen Disclaimer einschieben: Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass das Buch einen dezidiert politischen Anspruch hat. Remarque war (oder gab sich zumindest) so unpolitisch, wie man im Zwischenkriegsdeutschland nur sein konnte. Doch das ist das entscheidende: Die Zeit war alles andere als unpolitisch. Die Leiden, die Kapitalismus und imperialistischer Krieg hervorgebracht hatten, führte zu einer tiefen Massenpolitisierung und schließlich Revolution. Das war 10 Jahre später, als das Buch erschien, noch frisch im Bewusstsein. Remarque konnte das, selbst wenn er es gewollt hätte, nicht komplett außen vorlassen. Die „Politik von unten“ dringt daher durch jede Pore des Buches hindurch.

Der Krieg der Herrschenden Klasse bekommt Risse

Die Soldaten in Remarques Roman sind hart. Die staatliche Militärmaschinerie und der Krieg selbst hat sie verroht, sie sind in der Ausbildung bis zur Erschöpfung und bis aufs Blut geschliffen geworden, damit sie jeden Befehl befolgen. Sie fügen sich im Großen und Ganzen ihrem Schicksal, sind sogar überzeugt davon, dass man das Vaterland verteidigen müsse. Aber sie sind trotzdem selbst denkende und selbst handelnde Menschen, keine Automaten wie bei Berger. Sie hassen die willkürlichen Gemeinheiten der Offiziere und die Lücken der erzwungenen militärischen Disziplin werden bis zum Letzten ausgenützt, und im Laufe des Buches bekommt auch das Akzeptieren der „höheren“ Ziele immer mehr Risse. Sie sind auch zu einem großen Teil die Söhne von „armen Leuten“ oder waren vor dem Krieg selbst Arbeiter oder Bauern, die sich der Klassenspaltung bewusst sind: „Unser Essen ist so schlecht und mit so viel Ersatzmitteln gestreckt, daß wir krank davon werden. Die Fabrikbesitzer in Deutschland sind reiche Leute geworden – uns zerschrinnt die Ruhr die Därme.“

Ihre Härte richtet sich im Buch immer wieder auch gegen Offiziere und Unteroffiziere, gegen die verhassten Ärzte – ein Aspekt, der im Film bis ins letzte Detail herausgestrichen wird. Schon zu Beginn ist jedem klar: „Gleiche Löhnung, gleiches Essen, wär der Krieg schon längst vergessen“. Die oben schon beschriebene Gans wird nicht wie im Film einem französischen Bauern, sondern aus dem Stall des Regimentsstabes gestohlen. Himmelstoß, dem eigentlich „allmächtigen“ Ausbildner, der Paul und seine Freunde sie bis zum Letzten quält, aber über den sich „offiziell“ zu beschweren alles nur schlimmer macht, lauern sie am Ende der Ausbildung kurzum auf. Sie stülpen ihm ein Bettlaken über den Kopf, damit er sie nicht erkennen kann und verprügeln ihn schwer. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass diese Figur, an der sich im Buch der Hass der einfachen Soldaten kristallisiert, im Film gar nicht vorkommt.

Je länger der Krieg andauert, desto mehr wird er auch allgemein hinterfragt. Remarque lässt einen Soldaten sagen: „Aber bedenk mal, dass wir fast alle einfache Leute sind. Und in Frankreich sind die meisten Menschen doch auch Arbeiter, Handwerker oder kleine Beamte. Weshalb soll nun wohl ein französischer Schlosser oder Schuhmacher uns angreifen wollen? Nein, das sind nur die Regierungen.“ – und niemand kann ihm wirklich etwas entgegnen.

Paul denkt, konfrontiert mit russischen Kriegsgefangenen weiter:

„Ein Befehl hat diese stillen Gestalten zu unsern Feinden gemacht; ein Befehl könnte sie in unsere Freunde verwandeln. An irgendeinem Tisch wird ein Schriftstück von einigen Leuten unterzeichnet, die keiner von uns kennt; und jahrelang ist unser höchstes Ziel das, worauf sonst die Verachtung der Welt und ihre höchste Strafe ruht. Wer kann da noch unterscheiden, wenn er diese stillen Leute hier sieht mit den kindlichen Gesichtern und Apostelbärten! Jeder Unteroffizier ist dem Rekruten, jeder Oberlehrer dem Schüler ein schlimmerer Feind als sie uns. Und dennoch würden wir wieder auf sie schießen uns sie auf uns, wenn sie frei wären.

Ich erschrecke; hier darf ich nicht weiterdenken. Dieser Weg geht in den Abgrund. Es ist noch nicht die Zeit dazu; aber ich will den Gedanken nicht verlieren, ich will ihn bewahren, ihn fortschließen, bis der Krieg zu Ende ist. Mein Herz klopft: ist hier das Ziel, das Große, das Einmalige, an das ich im Graben gedacht habe, das ich suchte als Daseinsmöglichkeit nach dieser Katastrophe aller Menschlichkeit, ist es eine Aufgabe für das Leben nachher, würdig der Jahre des Grauens?“

Remarque bleibt hier - wohl bewusst - vage, und das Buch endet vor dem Waffenstillstand. Aber der Keim der revolutionären Kämpfe am Ende und nach dem Krieg ist sichtbar. Und als der Krieg sich auch im Buch dem tatsächlichen Ende zuneigt, im Herbst 1918, drückt der Autor das auch direkt aus:

„Jeder spricht von Friede und Waffenstillstand. Alle warten. Wenn es wieder eine Enttäuschung wird, dann werden sie zusammenbrechen, die Hoffnungen sind zu stark, sie lassen sich nicht mehr fortschaffen, ohne zu explodieren. Gibt es keinen Frieden, dann gibt es Revolution.“

Das fasst die Stimmung, die die Arbeiterklasse, die Soldaten im Herbst 1918 erfasst hatte, im Grunde richtig.

Die Revolution beendet den Krieg

Die tatsächliche Stimmung war sogar noch zugespitzter, als Remarque das 10 Jahre später beschrieb. Unter Eindruck der Russischen Revolution hatten im Laufe des Jahres immer wieder Massenstreiks und Demonstrationen der Arbeiterschaft stattgefunden. Die Disziplin in der Armee war spätestens seit dem Scheitern der deutschen Frühjahrsoffensive 1918 so wackelig, dass an weitere Offensivaktionen nicht einmal mehr zu denken war. Zehntausende desertierten, hunderttausende lehnten es auf die eine oder andere Art ab, für Kämpfe eingesetzt zu werden.

Als die Seekriegsleitung (noch vor einem Waffenstillstand!) versuchte, die deutsche Marine in einen „letzten Kampf“ zu führen, meuterten die Matrosen. Die Meuterei breitete sich schnell aus, die Arbeiter schlossen sich der Bewegung an, Arbeiter und Soldatenräte gründeten sich im ganzen Land, die alten Monarchen der Länder wurden gestürzt. Nur die Politik der SPD-Führung, die die Revolution nicht gewollt hatte und die sich mit aller Macht gegen jede soziale Revolution stellte verhinderte, dass im November 1918 in Deutschland der Kapitalismus beseitigt wurde. Die Kapitalisten, aber auch die alten Offiziere gaben, zu Tode erschreckt, für den Moment jeder Forderung der Arbeiter und Soldaten nach, die die Sozialdemokratie nicht zurückhalten konnte.

Wer kann für eine Sekunde glauben, dass diese echten Soldaten des November 1918 den Befehl von Bergers Offizier ausgeführt hätten? Wer kann sich nicht bildlich vorstellen, was selbst die von Remarque beschriebenen, ein wenig „idealeren“ Soldaten mit ihm gemacht hätten, der sie zur Schlachtbank schicken wollte – vorausgesetzt, dass ihn nicht ein Vorgesetzter mit den Worten aufgehalten hätte: „Sind sie wahnsinnig? Wollen sie den Bolschewismus in Deutschland provozieren?“

Im Krieg, den Berger präsentiert, richtet sich letztendlich alles nach den Wünschen der Herrschenden. Die Massen sind keine Akteure, sondern Opferlämmer, denen es zwar schlecht geht, die sich aber fügen. Gedanken wie „wir sind doch hier, um unser Vaterland zu verteidigen. Aber die Franzosen sind doch auch da, um ihr Vaterland zu verteidigen. Wer hat nun recht?“ würden ja gerade in Zeiten des imperialistischen Krieges in der Ukraine nicht gut ins Konzept passen. Vielleicht hat die staatliche „Deutsche Film und Medienbewertung“ dem Film deswegen das Prädikat „besonders wertvoll“ verliehen - wir wissen es nicht. Doch was wir mit Bestimmtheit sagen können ist, dass es sinnvoller ist, die Verfilmungen von 1930 oder 1979 anzusehen, oder besser noch, das Buch selbst zu lesen.

 

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