Kategorie: Geschichte

Arbeiterinnen im wilden Streik 1973 standen bei Pierburg alle Bänder still!

Im Streikjahr 1973 entfachte der Protest der migrantischen Arbeiterinnen beim VW-Zulieferer Pierburg bei Neuss einen wilden Streik, der trotz fehlender Unterstützung der DGB-Gewerkschaften einer der erfolgreichsten seiner Zeit war. Grund dafür war die erfolgreiche Solidarisierung mit den deutschen Facharbeitern der anderen Abteilungen für einen gemeinsamen Kampf. Wir zeigen an diesem inspirierenden Beispiel auf, wie der gemeinsame Kampf aller Arbeiterinnen und Arbeiter das wirksamste Mittel gegen jegliche Unterdrückung, Diskriminierung und Ausbeutung ist.

Ihr Kampf ist unser Kampf (Film)


In unserem Artikel stützen wir uns auf das Buch „Wilder Streik. Das ist Revolution“ so wie den Dokumentarfilm „Ihr Kampf ist unser Kampf“, die den Streik dokumentieren. Wir empfehlen beides zu lesen und anzusehen. In diesen Zeiten der tiefen kapitalistischen Krise liefert der Streik bei Pierburg Inspiration, selbst in den Klassenkampf einzugreifen und für eine sozialistische Welt einzutreten. Um die Welt zu verändern, braucht es Mut, den Kampf in die eigenen Hände zu nehmen. (Alle Zitate soweit nicht anders Gekennzeichnet aus „Wilder Streik. Das ist Revolution“.)

Historischer Kontext

Das Jahr 1973 war eines des größten Streikjahre nach dem Nachkriegsboom, in dem besonders Gastarbeiter große, zumeist wilde Streiks anführten. Die Gastarbeiter waren in der wachsenden Nachkriegswirtschaft über Anwerbeabkommen in die BRD gekommen. Abgeschlossen wurden diese 1955 mit Italien, 1960 mit Spanien und Griechenland, 1961 mit der Türkei, 1963 mit Marokko, 1964 mit Portugal, 1965 mit Tunesien und 1967 mit Jugoslawien. Insgesamt kamen bis 1973 knapp 14 Millionen Arbeitsmigranten. Die CDU/CSU-geführten Bundesregierungen und die Kapitalistenklasse hatten nie vorgesehen, dass diese langfristig in Deutschland blieben. Sie bekamen oft die schlechtbezahltesten und niedersten Jobs und sollten nach ein paar Jahren das Land wieder verlassen, wenn man sie nicht mehr brauchte. Oft waren Belegschaften dadurch stark gespalten. Ungelernte Jobs, wie am Fließband, wurden mit Gastarbeitern besetzt, während Deutsche in besser bezahlte Positionen aufsteigen konnten.

Es waren zwar bald ein Viertel der Gastarbeiter in den Gewerkschaften organisiert, doch kaum welche in Führungspositionen, Vertrauenskörpern oder Betriebsräten vertreten. Die Gewerkschaftsführung sah sie einerseits als Konkurrenten – für gute Jobs ihrer Stammbelegschaft, sowie für privilegierte Bürokratenposten – und andererseits wurde oft die Haltung vertreten, nur wenn Migranten die Drecksarbeit machten, könne die deutsche Stammbelegschaft in besseren Stellen bleiben. Zudem herrschte auch damals schon ein typisch westdeutsches, drakonisches Streikrecht, das jegliches Streiken grundsätzlich verbietet und nur unter sehr beschränkten Bedingungen gewährt. Das begründete unter anderem das sehr kleine Engagement der DGB-Gewerkschaften für eine bessere Organisierung der ausländischen Arbeiter.

Zusätzlich waren durch die Propaganda der bürgerlichen Medien die Gastarbeiter bei den Deutschen als Lohndrücker und anspruchslose Arbeiter verschrien. Tatsächlich ließen sich zu Beginn viele von ihnen schlechte Arbeitsbedingungen eher gefallen, da sie davon ausgingen stets in ihre Heimat zurückkehren zu können. Aber auch die Angst davor, den Job zu verlieren übte enormen Druck aus. Doch Anfang der 70er begannen viele zu realisieren, dass sie vielleicht für immer in der BRD bleiben würden und waren zunehmend desillusioniert von den erdrückenden Arbeitsbedingungen. Als sich dann noch die wirtschaftliche Situation zu verschlechtern begann – die damals starke Inflation machte besonders den Gastarbeitern zu schaffen, da viele Geld nach Hause schickten. Dadurch stieg die Unzufriedenheit und es kam zu einer Reihe von großen Streiks im Jahr 1973. Die allermeisten waren wilde Streiks, da die Gewerkschaft entweder keine Initiative ergriff oder die Forderungen der Gastarbeiter schlichtweg ignorierte.

In einer Ausgabe ihrer Zeitung aus dem Jahr 1974 schreibt das Redaktionskollektiv „express“, dass 1973 mindestens 275.000 Arbeiter und Angestellte in rund 335 Betrieben spontan und unabhängig von den Gewerkschaften streikten. Durch intensive Hetzkampagnen durch Medien, Bosse und Staat – teilweise sogar der Gewerkschaftsführungen – gegen diese wilden Streiks konnten Belegschaften oft in Deutsche gegen Migranten gespalten und viele Streiks vereitelt werden. Doch der Streik der Gastarbeiterinnen bei Pierburg Neuss ist ein glänzendes Beispiel aus dieser Zeit, wie Spaltungen unter Arbeiterinnen und Arbeitern, egal welcher Nation, überwunden werden können. Es war der erfolgreichste Streik seiner Zeit, bei dem es die mehrheitlich ausländischen Frauen schafften, die deutschen männlichen Facharbeiter auf ihre Seite zu ziehen.

Geschichte des Streiks

Am 13. August 1973 entfachten migrantische Arbeiterinnen einen wilden Streik in der Vergaserfabrik der Auto- und Luftfahrt-Gerätebau KG A. Pierburg. Der VW-Zulieferer, Teil der international vertretenen Pierburg Gruppe, beschäftigte 3.600 Arbeiter in diesem Werk, der Großteil von ihnen Frauen aus dem Ausland – darunter 900 Griechinnen, 500 Türkinnen und 200 Italienerinnen, Spanierinnen und Jugoslawinnen. Diese waren alle in der Leichtlohngruppe 2 angestellt – bundesweit eine Lohngruppe fast ausschließlich für Frauen. Sie erhielten 4,70 DM pro Stunde, für eine Arbeit mit „geringer körperlicher Belastung“ (Tarifvertrag) – schwerste Akkordarbeit in hoher Geschwindigkeit, starke einseitige Belastung und dabei ständig gesundheitsschädlichen Chemikalien ausgesetzt.

Viele Arbeiterinnen trauten sich kaum auf Toilette zu gehen und gaben dem Meister Bescheid, wenn sie ihre Periode hatten, um nicht wegen längeren Klozeiten in Ungnade zu verfallen. Oft wurden sie von männlichen Vorarbeitern rassistisch und sexistisch angegangen, teilweise wurden diese sogar handgreiflich, wenn sie Nachlässigkeit vermuteten.

Von den Gewerkschaften gab es kaum Unterstützung. Diese gingen bei Streiks von Frauen und Migranten generell nur halbherzig vor: Die Geschäftsleitung hatte bereits ein Jahr vorher im Zuge der Verhandlungen mit der IG Metall zugesichert, die Leichtlohngruppe 2 bei Pierburg aufzugeben. In bestehenden Arbeitsverhältnissen wurde sie aufrechterhalten. Der Bevollmächtigte der IG Metall Neuss sagte ein Jahr zuvor:

„Liebe Kolleginnen, wollen sie mehr Lohn haben? […] Die IG Metall hat gegenüber dem Arbeitgeberverband die Lohngruppen 1 und 2 zum 31.12.[72] gekündigt. Das bedeutet, dass diese gekündigte Lohngruppe für alle Arbeiterinnen, die am 31.12. bei der Firma beschäftigt waren, weiter gelten. […] Diese Nachwirkung kann aber durch eine Vereinbarung unterbrochen werden. Sie selbst können diese Vereinbarung mit ihrer Firma abschließen. […] Ein einfacher Weg, den Stundenlohn um mindesten 21 Pfennig zu erhöhen. Sie bestimmen nun mit, ab wann die Lohnerhöhung wirksam wird.“ (Ihr Kampf ist unser Kampf, Min. 5)

Doch monatelange friedliche Verhandlungen des Betriebsrats bleiben fruchtlos. 

Etwas besser erging es den deutschen Facharbeitern des Werkzeugbaus und der Entwicklungsabteilung, die deutlich besser verdienten und in einem separaten Gebäude arbeiteten. Doch auch bei ihnen wuchs der Unmut, immer wieder kam es zu kleineren, größtenteils erfolglosen Arbeitskämpfen.

Jahrelang schafften es die Schergen Pierburgs durch Bestechung von „Rädelsführern“ und Betriebsräten, Entlassungen und hohem Durchlauf an Neueinstellungen etc. den Deckel auf den Topf zu drücken. Aber an jenen heißen Sommertagen kochte er über. Der erste Streiktag begann recht klein, um 6 Uhr morgens, mit 200-300 Arbeiterinnen der Frühschicht, die sich vor das Werkstor stellten. Die Forderung: Abschaffung der Leichtlohngruppe 2 und eine Mark mehr für alle Beschäftigten. Flugblätter in allen Sprachen wurden verteilt. Die örtliche Polizei war schnell vor Ort und forderte die Streikenden auf, das Tor zu räumen. Es kam zu einem Handgemenge, ein Polizist zog seine Pistole, ein anderer schrie rassistische Sprüche. Danach zogen sie sich zurück und kamen schließlich mit drei VW-Bussen und neuen Polizisten wieder. Drei Griechen – zwei Frauen, ein Mann – wurden verhaftet. Elephteria Mermela wurde im Schmerzgriff gepackt, geprügelt und zehn Stunden in einer Einzelzelle auf der Neusser Wache festgehalten: „Ich wurde verhört. Man wollte immer hören, dass wir wegen Politik streiken.” (S. 17)

Die Einschüchterung wirkte nur kurz abschreckend. Nach der Frühstückspause streikten 600 vor allem Arbeiterinnen vor dem Tor, die Produktion stand still. 

Am nächsten Tag standen wieder 350 Arbeiterinnen der Frühschicht vor dem Tor. Die Polizei kam mit drei Mannschaftsbussen und schlug ohne Zögern auf die Streikenden ein. Der Polizeichef von Neuss sagte dazu später:

„Ich habe darauf hingewiesen, dass wir unsere Anweisungen aus dem Ministerium hätten, wie wir uns in Streikfällen zu verhalten hätten.“ [Film, Min. 11]

Fernsehen und Rundfunk waren vor Ort, die Bilder lösten Empörung und Solidarisierung aus. Im Laufe des Tages streikten insgesamt 2.000 Arbeiterinnen und Arbeiter – nur die Facharbeiter und Büroangestellten fehlten.

Doch die Firmenleitung blieb auch am 3. Streiktag kalt. Firmenleiter Helmut Goebel teilte immer wieder mit: „Ich brauche keinen Betriebsrat.“ Die Firmenleitung schloss das Tor und spannte Ketten, um Streikende innerhalb und außerhalb des Werksgeländes zu trennen. Diese wurden durchbrochen. Der türkische Vertrauensmann Eroglu Galip drohte sich zu verbrennen, sollte es nicht bis Mittag Verhandlungen geben. Das Management blieb stur und ließ keine Gespräche zu. Empörung herrschte über die Zeitungsberichte, die immer wieder behaupteten, der Streik sei durch Außenstehende geschürt worden.

Aus einem Bericht geht hervor, dass die Neusser Kneipen voll waren an jenem Abend, alle waren zusammengekommen, Türken, Griechen, Deutsche, Spanier, Italiener, Jugoslawen, Frauen mit ihren Männern, Männer mit ihren Frauen. Es ging nur um eins, den Streik bei Pierburg. Man überlegte, wie der Streik unterstützt werden kann. Es wurden Geld gesammelt und Solidaritätsaktionen geplant. An einem Tisch war zu hören:

„Morgen müssen wir einsteigen! Irgendwann brauchen wir die Ausländer auch. Erinner’ dich doch mal an früher. Da haben wir mal zu streiken versucht. Keine 70 Mann waren wir zum Schluss, als wir in die Kantine marschierten. Wären die Frauen mitgezogen, dann wäre das schon was geworden.“ (S. 20)

Und so kam es – am Morgen des 4. Tags streikten die deutschen Facharbeiter mit. Besonders empört war man darüber, dass der gewählte Betriebsrat von den Chefs ignoriert wurde und über die Polizeigewalt gegen die streikenden Frauen. Und viele teilen die Meinung des Kollegen, in einer ähnlichen Situation wie die Frauen zu sein oder landen zu können und wissen, sollten sie selber mal eine Forderung haben, bräuchten sie auch die Frauen auf ihrer Seite. Zwei Facharbeiter äußerten in der Dokumentation:

„Der [Betriebsrat] ist von uns gewählt worden und mehr oder weniger sind wir da ja mitbetroffen. Wir haben den gewählt und der ist ja nicht angehört worden, der hat ja unsere Interessen zu vertreten. In dem Moment werden wir ja auch mehr oder weniger getreten.“

„Das selbe Problem kann uns ja morgen auch zustoßen, ne. Da sind wir ja froh, wenn wir die Minderheit hier sind, ne wahr, und wir sind hier die Fachleute, da sind wir ja froh, wenn wir von den Frauen unterstützt werden.“ (Film, Min. 18)

Mit Blumen wurden sie auf dem Werksgelände empfangen, es wurde getanzt und sich umarmt. Solidaritätstelegramme trafen ein: von den Walz- und Hüttenwerken Oberhausen, den Hella-Werken bei Lippstadt, Küppersbusch aus Gelsenkirchen und weiteren Werken. Die Facharbeiter des Werkzeugbaus stellten ein Ultimatum – endlich: um 10 Uhr wurden die Verhandlungen aufgenommen.

Das erste Angebot der Bosse stand am nächsten Tag, um 6:30 Uhr. 12 Pfennig mehr ab sofort, 20 Pfennig ab dem 1. Januar 1974. Ein türkischer Arbeiter rief: „Wenn es bei 12 Pfennigen bleibt, werden wir 12 Jahre weiter streiken.“ (S. 35) Um 13 Uhr trafen Vertreter des Arbeitgeberverbandes ein. Der Streik zeigte Signalwirkung, bei Hella in Lippstadt (Autobeleuchtung) wurde nun auch gestreikt. Die deutsche Automobilindustrie stand an einem kritischen Punkt, denn ohne Vergaser konnten die Autos nicht fertiggestellt werden. Jetzt ging es schnell. Um 16 Uhr gab es ein Ergebnis: Wegfall der Lohngruppe 2 und Lohnzuschläge von 53 bis 65 Pfennig pro Stunde. Die Streikenden nahmen die Arbeit wieder auf – außer 150 Arbeiterinnen, die noch am nächsten Tag vor dem Tor standen und forderten: Alle Streiktage bezahlen! Keine Entlassungen!

Die Unternehmensleitung sperrte das Tor zu und ließ laut Musik laufen, um die Streikenden zu übertönen. Doch am Nachmittag wurde bekannt: Die Facharbeiter des Werkzeugbaus waren geschlossen zu ihrem Betriebsrat geschritten und hatten die Forderungen der Frauen wiederholt. Mit Erfolg: vier Streiktage wurden bezahlt, niemand wurde entlassen. Der Streikerfolg war total – ohne Beihilfe der IG Metall, die sich recht widerwillig zur Mitte des Streiks in Worten solidarisch erklärten, aber behaupteten, sie hätten den Streik nicht „legalisieren“ können.

Nachspiel

Nur zwei Monate später versuchte sich die Geschäftsleitung zu rächen. 150 Arbeitsplätze und zugehörige Maschinen sollten verlagert werden, zu Pallas bei Lobberich, auch ein Pierburg Betrieb – dort wurde noch nie gestreikt. Angeblich, um Produktionsrückstände auszugleichen, um die wirtschaftliche Notlage in der im November 1973 ausgebrochenen Ölkrise aufzufangen.

Schon jetzt wurden Arbeiterinnen andere Aufgaben zugeteilt, ihre Arbeitsplätze an Pallas-Arbeiter übertragen, mit eigenen Meistern und Vorarbeitern. Auch nach Frankreich, Spanien, Italien plante man zu verlagern.

Kurzfristig organisierten 600 Arbeiterinnen und Arbeiter einen Demonstrationszug durch die Neusser Innenstadt. Wurde die Verlagerung erst als unumgängliche betriebswirtschaftliche Notwendigkeit dargestellt, wurde sie nun im Handumdrehen eingestampft. Doch dabei beließ es die Geschäftsleitung nicht. Im April 1974 wurde ein gerichtliches Verfahren zur fristlosen Kündigung gegen vier Mitglieder des im Streik aktiven Betriebsrats eingeleitet, da im Mai 1974 Betriebsratswahlen anstanden und man die unliebsamen Arbeiter aus dem Weg räumen wollte. Der ehemalige Betriebsrat Satolias – Wortführer der griechischen Belegschaft im August – bekam vom Management 25.000 DM Abfindung, setzte sich nach Griechenland ab und schrieb für die Anklage ein Statement, die Betriebsräte hätten sich in seiner Wohnung zu dem (illegalen) Streik verschworen.

Der Prozess dauerte Monate und bei den Verhandlungen war der Gerichtssaal stets mit Beschäftigten des Neusser Werks gefüllt, die ihre Solidarität mit ihren Betriebsratsmitgliedern demonstrierten. Das Management hatte Schwierigkeiten, stichhaltige Beweise zu sammeln. Auch Satolias zog Anfang 1974 – mit der Auflösung der Diktatur in Griechenland – sein Statement zurück und erklärte volle Solidarität mit den Betriebsräten. Er habe unter dem Druck Pierburgs und der griechischen Junta gestanden.

Acht Monate zog sich der Prozess, doch schlussendlich wurde der Kündigung nicht stattgegeben. Nur Betriebsdolmetscher Kelidis blieb beurlaubt – die anderen Betriebsräte stellten einen gerichtlichen Antrag auf Wiedereinstellung. Die IG Metall schaltete sich erst dann ein – aber nicht im Sinne der Belegschaft. Vorstandsmitglied Karl-Heinz Janzen verhandelte mit dem Inhaber Pierburgs am 23. Dezember 1974. Was besprochen wurde, blieb unter Verschluss. Während die Firma wegen Krankheitsfällen munter weiter feuerte, wies die Gewerkschaft den Betriebsrat an, nichts ohne Kommunikation mit der Gewerkschaftszentrale zu unternehmen – was einer praktischen Lähmung gleichkam.

Am 10. Januar 1975 stimmt sich die IG Metall wieder mit der Geschäftsleitung ab. Der Betriebsrat solle seinen Antrag auf Wiedereinstellung von Kelidis zurückziehen, stattdessen dürften sie zusammen mit der Geschäftsleitung eine Pressemitteilung herausgeben. Keiner der Änderungsvorschläge des Betriebsrats für den Entwurf wurde aufgenommen. Es herrschte Empörung, doch der Bevollmächtigte der IG Metall drohte:

„‚Entweder der Betriebsrat akzeptiert diesen Entwurf, so wie er ist, ohne auch nur ein Wort zu verändern, oder die Worte Betriebsrat werden gestrichen und dafür IG Metall eingesetzt.’ Auf die Frage, was dann passieren würde, bekam der Betriebsrat folgende Antwort: ‚Ihr wisst, dass über jeden Rechtsschutzantrag der Vorstand entscheidet.’“ (Wilder Streik. Das ist Revolution. S. 145)

Einige Tage später verkündete Pierburg, man müsse 600 Arbeiterinnen und Arbeiter entlassen und für fünf Monate wurde Kurzarbeit angeordnet. Nur ein Beispiel der schändlichen Rolle der sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftsführungen.

Die Rolle der sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftsführung

Im Gegensatz zu dem, was die IG Metall heutzutage auf ihrer Website behauptet – für die Gastarbeiter hätten die Gewerkschaften zu „den wenigen Orten des Ankommens” gehört – berichtete ein Pierburger Betriebsrat 1975 im Interview über die Jahre der Anwerbeabkommen:

„Am Anfang ist von der IG Metall überhaupt nicht reagiert worden. […] Man hat also die Dinge laufen lassen, und das ist auch heute im Grunde genommen nicht anders […]. Man ist also fast hochoffiziell in Neuss hingegangen und hat gezeigt, dass die Ausländer nur dazu da sind, um hier zu arbeiten, und wenn sie sonst noch irgendwelche Bedürfnisse haben, dann sollen sie mal schauen, wie sie sie befriedigen.“

„Es gibt kaum Ortsverwaltungen, in denen ausländische Delegierte eine Rolle spielen. Und es gibt keine einzige Ortsverwaltung in der BRD, bei der zum Beispiel der Bevollmächtigte ein Ausländer ist. […]“

„Von unseren Erfahrungen ausgehend kann man ganz klar und deutlich sagen, dass die Gewerkschaft mit der Programmatik, die sie zur Ausländerbeschäftigung entwickelt hat, völlig versagt hat und dass die tatsächlichen Interessen der ausländischen Kollegen hier in Deutschland in keinem Fall richtig vertreten worden sind. […] Die sind ein notwendiges Potential, das man zurzeit in der BRD braucht, und wenn es nicht mehr gebraucht wird, dann ist sie genauso schnell bereit, die Kollegen loszuwerden und abzuschieben, wie es der Unternehmer und wie es der Staat genauso will.” (S. 128 ff.)

Man verfolgte vielerorts nicht nur keine aktive Politik, die migrantischen Kollegen mit einzubeziehen, sondern wehrte sich aktiv dagegen, viele Gewerkschaftsfunktionäre befürchteten, ihre Posten an Vertreter der Gastarbeiter abtreten zu müssen:

„Wir sind im Grunde genommen in Neuss dadurch, dass wir als einzige eine ziemlich konkrete Ausländerpolitik betreiben, unten durch bei den gewerkschaftlichen Funktionsträgern der anderen größeren Betrieben. Die haben kein Verständnis dafür, dass wir das machen.” (Wilder Streik. Das ist Revolution. S. 100)

Wie kämpfen gegen Unterdrückung aller Art?

Der inspirierende wilde Streik war nicht der einzige seiner Zeit – doch der mit Abstand erfolgreichste. Er zeigt auf anschauliche Weise, wie besonders unterdrückte Schichten der Arbeiterklasse – an dieser Stelle Gastarbeiterinnen, die sowohl rassistisch wie auch sexistisch diskriminiert wurden – für ihre Rechte und speziellen Forderungen kämpfen können. 

Anstelle ihren Kampf isoliert zu führen, jeder für sich, erkannten sie, dass sie die Unterstützung der Gesamtbelegschaft brauchen und appellierten mit bewundernswertem Enthusiasmus und Mut an deren Solidarität. Ein maßgeblicher Teil des Erfolgs bestand darin, dass die ausländischen Arbeiterinnen es schafften, die gesamte Belegschaft des Werks mitzureißen. Das gelang über verschiedene Wege: 

Einmal hatte man sich auf zwei einschlägige Forderungen fokussiert, hinter die sich alle versammeln konnten: Die Abschaffung der Leichtlohngruppe 2 – die nur die Arbeiterinnen betraf – und die Forderung nach einer Mark mehr Stundenlohn – ein Vorteil für die gesamte Belegschaft. Das war ein klares Ziel vor aller Augen, darunter wollte man nicht gehen, daran konnte man Erfolge messen.

Ferner war der Umgang mit Streikbrechern freundlich – die ersten Streiktage ließ man alle ins Werk, steckte Rosen zu und appellierte: „Wir brauchen euch.“ Man diskutierte und erklärte die Gründe und die Notwendigkeit des Streiks – vor den Werkstoren und in den Kneipen der Stadt. Irgendwann stand dann alles still – selbst wer wollte, konnte nicht mehr arbeiten. Den Facharbeitern wurde klar, spätestens in der Diskussion mit den Streikenden, dass die Einheit mit den Frauen in ihrem Interesse ist – so wie Einheit einer Belegschaft immer zugunsten aller Arbeiter ist. Hätten sie nicht mitgemacht, hätten sie auch bei ihren eigenen Aktionen nicht auf die Frauen zählen können.

Heutzutage beliebte Theorien aus dem Bereich der Identitätspolitik stellen es so dar, als seien Menschen, die eine bestimmte Unterdrückung nicht erfahren, „privilegiert“ und direkt oder indirekt daran interessiert diese Diskriminierung zum eigenen Vorteil zu nutzen und aufrechtzuerhalten. Solche Ansätze münden stets darin, dass jede Unterdrücktengruppe ihren Kampf allein führen sollte. Alle Nicht-Betroffenen sollten sich als passive „Allies“ (Unterstützer) engagieren und nicht zu sehr einmischen – letztendlich vom Rand applaudieren. 

Doch eine Arbeiterschaft, die ihre Spaltungen entlang Geschlecht, Nationalität etc. nicht überwinden kann, schwächt ihre eigene Kampfkraft erheblich – davon profitieren nur der Chef und die Kapitalistenklasse insgesamt. 

Ein gegensätzliches Verständnis hatte man bei Pierburg. Dort wurde schon früh verstanden, sich auf Augenhöhe gemeinsam zu organisieren. Alle Neueingestellten wurden vom Betriebsrat und von den Vertrauensleuten in ihrer Sprache begrüßt und über ihre Rechte und Ansprechpartner aufgeklärt. Alle Versammlungen wurden stets gemeinsam abgehalten, in allen Sprachen der Beschäftigten. Das gegenseitige Verständnis und Vertrauen im Betrieb war dadurch außergewöhnlich hoch, Betriebsversammlungen extrem gut besucht und die Belegschaft konnte so Anfang der 1970er Jahre den alten, arbeitgebernahen Betriebsrat vollständig durch einen progressiven ersetzen, den alle Beschäftigten als ihre legitime Vertretung ansahen.

Doch so, vor allem aber weil die Arbeiterinnen bei Pierburg die Spaltung überwanden, war ihr Kampf erfolgreich. Der inspirierende Kampfeswillen der Pierburger Frauen zeigt, was möglich ist, wenn Arbeiterinnen und Arbeiter gemeinsamen für ihre Interessen kämpfen. Im Kapitalismus ist jeder einzelne geglückte Arbeitskampf ein wichtiger Erfolg, der den Klassenzusammenhalt stärkt und die Grundlage für größere politische Kämpfe in der Zukunft legt. Das ist wichtig, denn um die Interessen der Arbeiter langfristig zu wahren, braucht es mehr als nur erfolgreiche Arbeitskämpfe. Wie die mannigfaltigen Angriffe des Managements nach dem Streik zeigen: jede Reform, jeder Fortschritt ist konstant unter dem Druck der Kapitalisten und dem bürgerlichen Staat, die mit allen Mitteln an ihrer Hand versuchen ihre Profite zu schützen. 

Ein Mittel dabei ist immer wieder die Spaltung unter Arbeitern zu fördern, mithilfe von Rassismus, Sexismus, etc. Der erfolgreiche Streik kann diese zwar wie kaum etwas anderes überwinden und das gemeinsame Interesse aufzeigen. Doch der oben zitierte Betriebsrat berichtet 1975, wie in der Wirtschaftskrise in den Jahren nach dem Streik die Hetze der Presse bei der Angst um den eigenen Arbeitsplatz auf fruchtbaren Boden fiel und ohne weiteren gemeinsamen Kampf Migranten wieder mehr als Konkurrenten um Arbeitsplätze als diese als Verbündete im Kampf gesehen wurden. Das zeigt eindrücklich, wie der Kapitalismus untrennbar mit Unterdrückung jeglicher Art verbunden ist. Sie werden von den Kapitalisten, ihren Politikern und Journalisten immer wieder genutzt und geschürt, um den Kapitalismus und die Privilegien der herrschenden Klasse und des Establishments aufrecht zu erhalten.

Solange er existiert wird der Kapitalismus jede Spaltung, entlang Geschlecht, Nationalität, Hautfarbe etc. reproduzieren. Um diese endgültig zu überwinden und langfristig die Interessen der überwältigenden Mehrheit der Menschheit wahren zu können, brauchen wir eine revolutionäre sozialistische Perspektive und Programmatik zur endgültigen Überwindung des Kapitalismus. Unsere Aufgabe ist es, mit klaren internationalistischen Positionen im Klassenkampf zur Vereinigung der Arbeiterklasse auf der ganzen Welt in eine sozialistische Bewegung beizutragen und der sozialistischen Revolution zum Sieg zu verhelfen. Wir stellen uns klar gegen jeden Versuch, die Arbeiterklasse in mehr oder weniger „privilegierte” Schichten zu teilen und gegen einen geeinten Kampf zu argumentieren. Solche Theorien haben keinerlei revolutionäre Perspektive und sorgen in der Praxis dafür, dass kein effektiver Kampf geführt werden kann — zum Nachteil aller Arbeiterinnen und Arbeiter. 

Ein wesentliches Hindernis für die Arbeiterklasse ihre Macht als die Erzeuger des gesellschaftlichen Reichtums zu nutzen und zum letzten Schlag gegen das Privateigentum auszuholen sind die verkrusteten, sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftsbürokratien. Sie behindern Millionen von Arbeitern Tag für Tag darin, ihre Unzufriedenheit in einen kollektiven Kampf in ihrem Interesse zu lenken. Wir Marxisten stehen für den Kampf gegen die sozialpartnerschaftliche Ausrichtung der Gewerkschaften. Wir treten für ein revolutionäres Programm in der Arbeiterbewegung, den Massenorganisationen der Arbeiterklasse und allen sozialen Kämpfen gegen Unterdrückung und Diskriminierung ein. Wir sind der Meinung, dass es eine Verbindung all dieser Kämpfe braucht, mit dem Ziel, den Kapitalismus und damit die Klassengesellschaft zu überwinden.

 

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