Ihr politisches Denken umfasst die ökonomische Theorie des Zusammenbruchs des Kapitalismus, den Charakter der kommenden Revolution in Russland, den Stellenwert der außerparlamentarischen Massenaktionen und Aspekte der sozialistischen Demokratie. Diese Themen sind keineswegs überholt, sondern im Gegenteil nach wie vor aktuell.
Rosa Luxemburg wird am 5. März 1871 in Zamosc (Polen) geboren. Sie wächst als jüngstes von fünf Kindern in einer wohlhabenden jüdischen Familie auf. 1873 siedelt die Familie nach Warschau über, wo Rosa von 1880 an das „Zweite Warschauer Mädchen-Gymnasium“ besucht. Sie ist ein intelligentes und schulisch erfolgreiches Mädchen von unabhängigem Geist. Die restriktiven Verhältnisse, die im damaligen Russisch-Polen herrschen, führen zu einer kritischen und rebellischen Haltung gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen. Schon als Schülerin wird Rosa in sozialistische Aktivitäten einbezogen. Einer Verhaftung zuvorkommend, flieht sie 1889 über die polnisch-deutsche Grenze und nimmt im Wintersemester 1890/91 ein Studium an der Universität Zürich auf. Zunächst studiert Rosa Mathematik und Naturwissenschaften, später beschäftigt sie sich mit politischer Ökonomie und schließt ihr Studium mit einer Doktorarbeit über die industrielle Entwicklung Polens ab. Während ihres Studiums nimmt sie Verbindung zu anderen im Exil lebenden Landsleuten auf und ist 1894 zusammen mit Leo Jogiches federführend bei der Schaffung der Sozialdemokratie des Königreichs Polen. Leo Jogiches wird ihr Mentor und Freund. Er agiert als ein hervorragender Organisator, sie als Analytikerin und mitreißende Agitatorin. Es beginnt eine lebenslange politische Verbundenheit,obwohl auf der persönlichen Ebene nach langer Beziehung eine Entfremdung eintritt. 1896 geht Rosa Luxemburg nach Deutschland, um in der deutschen Arbeiterbewegung aktiv zu werden.
Sozialreform oder Revolution?
Sie engagiert sich „auf dem linken Flügel“ der SPD und macht sich in den wichtigen Debatten innerhalb des europäischen Sozialismus einen Namen. 1899 erscheint ihre erste größere Schrift. „Sozialreform oder Revolution?“ ist eine marxistische Entgegnung auf den Reformismus, den sie in Gestalt von Bernsteins „Revisionismus“ zu widerlegen versucht. Dabei ist sie dem führenden marxistischen Parteitheoretiker Karl Kautsky überlegen, der die Frage der sozialistischen Umwälzung als eine rein mechanische Frage betrachtet. Die Machteroberung durch die Arbeiterklasse, so Kautsky, werde aufgrund der kapitalistischen Entwicklungstendenzen früher oder später automatisch eintreten. Deshalb trennt er die notwendige Verbindung zwischen den praktischen Tagesforderungen, die sich an den Alltagsinteressen der arbeitenden Menschen orientiert, und der sozialistischen Perspektive. Letztere spiegelt sich schließlich nur noch im Parteiprogramm oder in Sonntagsreden wider, hat aber keinerlei strategische und praktische Konsequenz für das Handeln der Partei. Für Rosa sind Sozialreformen letztlich Mittel für die soziale Umwälzung, die nach wie vor notwendig sei. Auch die von Kautsky als zwangsläufig dargestellte „Verelendung“ will Rosa nicht mechanisch verstanden wissen, sondern als eine immer größere Existenzunsicherheit, die durchaus mit steigenden Reallöhnen für eine Aufschwungsperiode vereinbar ist.
Am Erfurter Programm von 1891 wird ersichtlich, wie die Trennung zwischen dem kurzfristigen und langfristigen Programm vollzogen wird. Für den theoretischen Teil ist Kautsky zuständig, der eine marxistische Kapitalismusanalyse formuliert. Eduard Bernstein schreibt den Teil des Erfurter Programms, in dem die Tagesforderungen enthalten sind. Bernstein gilt heute als „Erfinder“ des Revisionismus. Seine Theorie fasst Bernstein selbst am treffendsten zusammen: „Das Endziel, was auch es immer sei, ist mir nichts, die Bewegung alles.“ Er fordert die Partei auf, „sich von einer Phraseologie zu emanzipieren, die tatsächlich überlebt ist, und das scheinen zu wollen, was sie heute in Wirklichkeit ist: eine demokratisch-sozialistische Reformpartei“. Der materielle Hintergrund dieser Auseinandersetzung ist der langanhaltende kapitalistische Aufschwung Ende des 19. Jahrhunderts, der die Krisenhaftigkeit des Wirtschaftssystems in den Hintergrund treten und den Marxismus als eine „graue Theorie von vorgestern“ erschienen lässt. Besonders bei den hauptamtlich tätigen Gewerkschaftssekretären und sozialdemokratischen Parlamentariern gerät das sozialistische Ziel zusehends in Vergessenheit: Die Umwälzung der bestehenden Verhältnisse, das entscheidende Moment, welches einen Kampf gegen die bestehende Ordnung verlangt.
Rosa erkennt, dass Bernstein mit seiner Ablehnung der Revolution zugunsten schrittweiser Reformen „nicht einen ruhigeren, sicheren, langsameren Weg zum gleichen Ziel, sondern auch ein anderes Ziel, ... nicht ... die Verwirklichung der sozialistischen Ordnung, sondern bloß ... die Reformierung der kapitalistischen“ wählt. Sie lehnt kategorisch die Vorstellung ab, dass die Ziele des Sozialismus in eine Reihe von Teilreformen aufgelöst, dass sie Stück für Stück durch gewerkschaftliche Tätigkeit, Wahlkämpfe und Parlamentsarbeit erreicht werden könnten. Eine Reformtaktik, selbst wenn sie von einem sozialistischen Ziel durchdrungen ist, ist nicht dasselbe wie eine revolutionäre Strategie, die zu diesem Ziel führen kann. Selbstverständlich habe die Arbeiterbewegung mittels Gewerkschaften und parlamentarischen Aktivitäten für Reformen zu kämpfen, aber die Krisen und Widersprüche des Kapitalismus werden die erreichten Errungenschaften immer wieder in Frage stellen, solange die kapitalistische Produktionsweise besteht. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist ein Beispiel für die Illusion eines krisenfreien, regulierbaren oder gezähmten Kapitalismus.
Rosa Luxemburg will die Trennung im Erfurter Programm zwischen Minimal- und Maximalforderungen überbrücken: Auf der einen Seite steht eine Reihe von Forderungen, die sich auf die unmittelbaren Alltagsbelange der Massen beziehen und die im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft verwirklicht werden können; auf der anderen Seite das sozialistische Ziel, das als eine abstrakte ethische Utopie bezeichnet wird. Für Rosa kann es nur eine Verschmelzung des sozialistischen Programms mit den Tageskämpfen der Massen geben. Nur wenn das Ziel mit den unmittelbaren Belangen der Menschen verbunden und schließlich ein Teil von ihnen wird, kann die Revolution siegreich sein.
Massenaktionen
1905 eskalieren Massenstreiks in Russland zu einer Revolution. Riesige Streiks und Demonstrationen, Versammlungen und Märsche, Massenaktionen aller Art sind an der Tagesordnung. Aus diesen Erfahrungen entwickelt Luxemburg, die in Russisch-Polen als Agitatorin aktiv an diesen Kämpfen teilnimmt, das Massenstreikkonzept („Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“, 1906). Sie erkennt die revolutionäre Situation und fordert die Sozialdemokratie auf, die Massen auf diese Realitäten vorzubereiten. Die Sozialdemokratie, so Rosa, könne die Revolution selbstverständlich nicht herbeiführen. Aber sie sollte die Tendenzen erkennen, begründen und erklären, die möglicherweise zu Massenkämpfen führen würden. Ihre Aufgabe solle die Propagierung und Einleitung der Massenaktionen sein. Diese gilt es zu verstärken und durch geeignete Parolen und Orientierungen voranzutreiben. Die Sozialdemokratie dürfe sich nicht mit der alten Routine begnügen, sondern müsse eine Offensivstrategie entwickeln. Dieses Konzept soll die alte Trennung zwischen Minimal- und Maximalforderungen endgültig beseitigen und den Sozialismus aus dem Reich der Sonntagsreden herausholen und auf die politische Tagesordnung setzen.
Rosa erkennt, dass die Massen nur durch einen solchen Prozess für den Sozialismus gewonnen werden können. Sie lernen in erster Linie aus der lebendigen Erfahrung, die sie mit dem Wirtschaftssystem machen. Hier muss die Propaganda ansetzen und eine sozialistische Perspektive anbieten. Anhand der Verteidigung ihrer Alltagsinteressen muss die Unbrauchbarkeit des Kapitalismus verdeutlicht werden. Klassenkämpfe sind dabei unersetzlich für das Herausbilden von Klassenbewusstsein. Die Massen lernen in der Aktion; sie lernen, wie Rosa es ausdrückt, „nicht aus Broschüren und Flugblättern, sondern bloß aus der lebendigen politischen Schule, aus dem Kampf und in dem Kampf, in dem fortschreitenden Verlauf der Revolution.“
Für sie ist der Massenstreik die eigentliche Form der proletarischen Revolution. Als spontaner Ausdruck der kreativen Macht der Massen und Gegengift gegen die bürokratische Trägheit der SPD- und Gewerkschaftsführungen verbindet er politische mit wirtschaftlichen Kämpfen und unmittelbare mit weiterreichenden Forderungen, woraus sich eine Infragestellung des kapitalistischen Systems ergeben kann.
Diese Ansichten führen 1910 zum Bruch mit Kautsky, der sich auf die Seite der vorsichtigen Parteiführung schlägt. Aus dem oben Gesagten wird ersichtlich, dass für Rosa die Massenspontaneität keine sich selbst genügende Kraft war, sondern dass auch die Art der Führung eine zentrale Rolle spielte. Man muss in diesem Zusammenhang Rosas langen politischen Kampf gegen eine Partei- und Gewerkschaftsführung erwähnen, die durch und durch reformistisch und bürokratisch war. Deshalb stellte sie des öfteren die „Massen“ gegen die „Führer“. Sie erkannte aber auch, dass die Spontaneität ihre Grenzen hatte:
„Die Äußerungen des Massenwillens im politischen Kampfe lassen sich nämlich nicht künstlich auf die Dauer auf einer und derselben Höhe erhalten, in eine und dieselbe Form einkapseln. Sie müssen sich steigern, sich zuspitzen, neue, wirksamere Formen annehmen. Die einmal entfachte Massenaktion muß vorwärtskommen. Und gebricht es der leitenden Partei im gegebenen Moment an Entschlossenheit, der Masse die nötige Parole zu geben, dann bemächtigt sich ihrer unvermeidlich eine gewisse Enttäuschung, der Elan verschwindet, und die Aktion bricht in sich zusammen.“
Imperialismustheorie
Rosas wissenschaftliche Hauptwerke sind „Die Akkumulation des Kapital“ und die „Einführung in die Nationalökonomie“. Aus diesen Werken entwickelt sie ihre Imperialismustheorie und die damit verbundene Kriegsgefahr. Eine geschlossene kapitalistische Wirtschaft, so Luxemburg, ohne Zugang zu nicht-kapitalistischen Gesellschaftsformationen, müsse zusammenbrechen, weil sie den gesamten in ihr produzierten Mehrwert nicht realisieren könne. Der Imperialismus sei ein Konkurrenzkampf zwischen kapitalistischen Nationen um die nichtkapitalistischen Gebiete, doch da letztere immer mehr aufgesogen würden, führe er zu einer allgemeinen Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse und den unvermeidlichen Zusammenbruch des Systems. Dieser Zusammenbruch stellt das Proletariat vor die Wahl: entweder Krise, Reaktion, Krieg und schließlich Katastrophe und Barbarei, oder Sozialismus. Nur der aktive Kampf für Sozialismus kann die drohende Katastrophe abwenden, deshalb ist er notwendig.
Wider den Krieg Rosa war eine Führerin der Opposition gegen den Ersten Weltkrieg und Mitbegründerin des Spartakusbundes und der Kommunistischen Partei Deutschlands. Als revolutionäre Internationalistin klagte Rosa die patriotische Haltung der Sozialdemokratie als Verrat an. Die meiste Zeit während des Krieges musste sie im Gefängnis verbringen; hier schrieb sie in Solidarität und Sympathie mit Lenin, Trotzki und den Bolschewiki „Die russische Revolution“. Rosa drückte aber auch gewisse Zweifel, Sorgen und Vorbehalte über den Verlauf der russischen Revolution von 1917 aus. Auch wenn diese Einschätzungen aus der Ferne (im Gefängnis war sie von allen verlässlichen Informationsquellen abgeschnitten) nicht immer richtig waren, so sind kritische und eigenständig denkende Persönlichkeiten wie Rosa für den Kampf einer sozialistischen Demokratie lebensnotwendig - damals wie heute.
Im Herbst 1918 wird Rosa aus dem Gefängnis freigelassen. Sofort beteiligt sie sich aktiv an der deutschen Revolution. Nach der Niederwerfung eines Aufstandes in Berlin wird sie am 15.1.1919 von rechtsgerichteten Offizieren ermordet.
Zum Weiterlesen: Rosa Luxemburg - Sozialreform oder Revolution? Franz Rieger: Luxemburg contra Lenin?
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