Kategorie: Europa

Landesweite Aktionen und Demos der Gelbwesten gehen weiter

Seit einem Monat weitet sich die Protestbewegung der Gelbwesten in Frankreich aus und drängt die Regierung des Präsidenten Emmanuel Macron in die Defensive. Ein Bericht aus Marseille.


Dass die Regierung in der vergangenen Woche den vorläufigen Verzicht auf die Erhöhung der Mineralöl- und Energiesteuer bekannt gab, konnte die Bewegung bislang ebenso wenig ausbremsen wie Warnungen vor Randale oder ein Interview mit zwei offenbar "regimetreuen" und gekauften Vertretern der sogenannten "Freien Gelbwesten", die nach einem Gespräch mit Regierungschef Philippe berichten: "Der Ministerpräsident hat uns verstanden." Nach wie vor melden Umfrageinstitute, dass rund drei Viertel der Bevölkerung mit den Gelbwesten sympathisieren.

Während die meisten Blicke am Wochenende auf die Mobilisierung nach Paris gerichtet waren und französische Fernsehsender pausenlos über Randale berichten, fanden auch landesweit in größeren und kleineren Städten Protestaktionen statt. Wir marschierten am Samstag, 8. Dezember, in der Mittelmeermetropole Marseille an der Rhonemündung bei drei verschiedenen Demonstrationen mit, die sich am Ende im Schulterschluss vereinigten und am späten Nachmittag gemeinsam am Castellane-Platz endeten.

Bereits um zehn Uhr versammelten sich mehrere tausend Aktivisten der Gelbwestenbewegung am Alten Hafen und zogen durch die Innenstadt Richtung Präfektur (Verwaltungssitz des Departments). Dort kamen bei einer Kundgebung verschiedene Aktivisten zu Wort, die in der Region um Marseille seit dem 17. November pausenlos Tag und Nacht mit ihren Westen an Straßen und Autobahnzahlstellen Flagge zeigen. Auffällig war die starke Präsenz von berufstätigen und oftmals auch alleinerziehenden Frauen und von Menschen mit Migrationshintergrund, die von prekären Arbeits- und Lebensbedingungen gezeichnet waren. Viele selbst angefertigte Schilder zeugten von Herzblut und Fantasie und verdeutlichten, dass sich in den vergangenen Monaten und Jahren viel Wut angestaut hat. "Wir tun es für unsere Kinder", so eine Aufschrift. "Ich bin 70, wütend und auf der Straße", hatte sich eine Seniorin auf ihr Schild geschrieben.

In den letzten Tagen war eine unbeteiligte ältere Dame in Marseille als Zeugin eines Polizeieinsatzes gegen eine Demonstration am Fenster ihrer Wohnung von einem polizeilichen Tränengasgeschoss getroffen worden und kurz darauf  an den Folgen der Verletzungen gestorben. "Für Ihre $icherheit: Die Polizei tötet ältere Menschen", kommentierte ein Demonstrant diesen Vorfall. "Passt gut auf euch auf, wenn ihr durch die Stadt geht", rieten uns besorgte Schülerinnen, die uns im Bahnhof ins Auge sprangen, als sie mit Plakaten und Demoparolen durch die Halle eilten.

Auch die von Mainstreammedien gebetsmühlenartig geschürte Angst vor gewalttätigen Demonstrationen scheint die Gelbwestenbewegung im französischen Süden nicht einzuschüchtern. "Wenn die Reichen aus der Finanzwelt die Armen bestehlen, nennt man das 'Business'. Wenn die Armen für ihre Kaufkraft kämpfen, nennt man das 'Gewalt' ", so der Wortlaut auf einem Pappschild. Rechte, rassistische Parolen oder gar rechtsextreme Führer, die die Demonstranten aufwiegeln, waren weit und breit nicht in Sicht. Die soziale Frage, die Kluft zwischen den Klassen und Zukunftsängste scheinen alle umzutreiben. Die meisten hatten offensichtlich in ihrem bisherigen Leben keine oder kaum Demoerfahrung, schienen aber fest entschlossen, jetzt nicht lockerzulassen und auf jeden Fall weiter zu machen. "Mein Leben dauert schon 40 Jahre, jetzt hat es einen Sinn", zitierte dieser Tage eine Tageszeitung eine schlecht bezahlte Arbeiterin aus der Gastronomie und alleinerziehende Mutter, die jetzt voll in der Bewegung aktiv ist. Umso absurder ist es, dass die großen Gewerkschaften bisher abseits stehen und gemeinsamen zur Mäßigung und zum Dialog aufrufen, anstatt im Schulterschluss mit der Bewegung den Rücktritt von Macron und seiner Regierung zu fordern. Im größten Gewerkschaftsbund CGT wächst die Opposition gegen diesen Kurs. Hier hat sich der Branchenverband für die chemische Industrie vom Schmusekurs der nationalen Führung distanziert.

Zurück zur Demo. Weitere Parolen drückten ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber staatlichen Instanzen aus und lehnten Privilegien für wirtschaftliche Eliten und die politische Kaste ab. Immer wieder forderten lautstarke Sprechchöre den Rücktritt von Staatspräsident Emmanuel Macron. Dessen offensichtliche Taktik, Premierminister Edouard Philippe und Innenminister Christophe Castaner zu Erklärungen vor laufenden Kameras vorzuschieben und sie gegebenfalls als "Bauernopfer" zu entlassen, scheint zumindest bei den Demonstranten nicht zu fruchten. Besonders wütend auf Macron schienen Menschen zu sein, die ihn  vor anderthalb Jahren noch in den Pariser Elysee-Palast gewählt hatten und dies nun offensichtlich sehr bedauern.

Stark vertreten waren bei der Demo auch Schüler, die in den vergangenen Tagen eine Koordination von zahlreichen Gymnasien gebildet und bereits am Donnerstag gegen die Schulpolitik der Regierung protestiert hatten. Das brutale Vorgehen von Bereitschaftspolizisten mit Tränengas und Gummigeschossen gegen unbewaffnete Schüler in mehreren Orten hat die Wut gesteigert und trägt dazu bei, dass in den Schulen eine neue Schicht von ganz jungen Aktiven heranwächst.

Um 14 Uhr reihten sich dann die Gelbwesten-Aktivisten am Alten Hafen in eine schon vor langer Zeit anberaumte Demonstration von Aktivisten der Klimaschutzbewegung ein. "Gelbe, grüne und rote Westen lieben unseren blauen Planeten", lautete eine griffige Parole, in der sich das Streben nach Einheit ausdrückte. "Systemveränderung statt Klimawandel", war eine gängige Forderung, die sich auf vielen Plakaten wiederfand. "Grüne und gelbe Westen - ein gemeinsamer Kampf", riefen die Demonstranten immer wieder lautstark. Von einem Konflikt zwischen Radfahrern der Ökobewegung und Autofahrern der Gelbwesten, die am Anfang der Bewegung vor allem gegen die Mineralölsteuer aufbegehrten, keine Spur.

In der Innenstadt reihte sich ein weiterer Demonstrationszug aus mehreren tausend Teilnehmern ein. Es waren Aktivisten einer in den vergangenen Wochen in Marseille neu aufgeflammten Bewegung für menschenwürdiges, erschwingliches Wohnen und gegen Gentrifizierung. Hintergrund für die Empörung sind jüngste Einstürze von baufälligen, aber bewohnten Häusern in der Altstadt, bei denen es Tote und Verletzte gab. Bei einer dieser Demos wurde übrigens die o.g. Seniorin tödlich verletzt. Viele Mieter in abbruchreifen Häusern, in denen oftmals auch defekte Gasleitungen entdeckt wurden, fühlen sich von der bürgerlichen Stadtregierung im Stich gelassen, wenn sie beim Amt vorsprechen und um Hilfe bitten. Die Wut über die Vertreibung von Mietern aus der Innenstadt und zunehmende Immobilienspekulation, bei der dem Vernehmen nach auch führende kommunale Mandatsträger persönliche Interessen haben, nährt eine neue Mieterbewegung, die sich weiter zu Wort melden wird und in den kommenden Wochen erneut vor dem Rathaus protestieren wird.

Auch an den Hochschulen, wo bereits im vergangenen Frühjahr gleichzeitig mit dem Eisenbahnerstreik eine Protestbewegung stattfand, gärt es weiter. In den Universitäten Montpellier und Toulouse beschlossen studentische Vollversammlungen eine von Mitgliedern der IMT eingebrachte Resolution, die sich für den Schulterschluss mit der Bewegung der Gelbwesten ausspricht und von den Gewerkschaften die Ausrufung und Organisierung eines 24-stündigen Generalstreiks fordert.

siehe Fotoalbum

siehe auch:
Frankreich in einem „Zustand des Aufstandes“, die Gelbwesten (gilets jaunes) in der Offensive
Frankreich: gelbe Westen, Lenin und die Gewerkschaftsführungen

 

 

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