Kategorie: Kapital und Arbeit

ArbeiterInnen des besetzten Fahrradwerkes Nordhausen wollen in Eigenregie weiter produzieren

Seit 75 Tagen halten die Beschäftigten des Nordhäuser Fahrradwerkes Bike Systems GmbH ihren Betrieb besetzt, um eine Demontage der Fertigungsanlagen und ein endgültiges Aus für ihre Arbeitsplätze zu verhindern. Passanten und Autofahrer auf der Bundesstraße 80 können einer Vielzahl selbst gefertigter und an Zaun und Mauern angebrachter Transparente entnehmen, dass der Widerstandsgeist der über 130 Frauen und Männer ungebrochen ist und sie mit Zähnen und Klauen ihre Arbeitsplätze erhalten wollen.




Am Werkstor haben sie aus mehreren Pavillonzelten eine Unterkunft errichtet, die durch mannshoch aufeinander gestapelte Industriepaletten zusätzlich gegen Wind und Wetter stabilisiert ist. Es ist Herbst geworden in Nordthüringen. Vorbei sind die lauen Sommernächte, in denen die Nachtwache bei angenehmen Temperaturen Dienst schieben konnte. Wenn jetzt das Thermometer nach Mitternacht gegen den Gefrierpunkt geht, machen Heizgeräte im Zelt und ein Brennofen am Tor allerdings den Einsatz erträglich.

Werksbesetzung in drei Schichten

Nordhausen am Harz hat sich bundesweit mit seinem Korn einen Namen gemacht. Doch Alkohol ist bei dem Arbeitskampf grundsätzlich unerwünscht, betont Jens Müller, Ersatzmitglied im Betriebsrat: „Wir brauchen einen klaren Kopf und wollen nicht, dass unser Widerstand durch gezielte Provokationen und auffälliges Verhalten in Verruf kommt oder gar gefährdet wird.“ Die strikte Disziplin, mit der die Besetzer auch im dritten Monat ihres Kampfes am Werk sind, spricht für sich. In drei Schichten sind sie rund um die Uhr im Einsatz. Ablösung kommt jeweils um 6, 14 und 22 Uhr.

Not schweißt zusammen. Wenn es gerade nichts Neues zu besprechen oder Besuchern etwas zu erklären gibt, dann überbrücken die Frauen und Männer die Zeit auch mit Würfelspielen wie „Mensch ärgere Dich nicht!“ Die Arbeit ruht seit Juli – nicht weil die Belegschaft etwa nicht arbeiten wollte, sondern weil das Management damals die für die Endmontage benötigten Teile und Rohstoffe in einer Nacht-und-Nebelaktion in das rund 30 km östlich gelegene MIFA-Werk in Sangerhausen schaffen ließ und somit die Belegschaft überrumpelte. Mit der Besetzung soll jetzt eine endgültige Demontage der Anlagen verhindert werden. Mit neuen Aufträgen und frischem Rohmaterial und Teilen könnte die Produktion sofort wieder aufgenommen werden. Die Schutzanzüge aus der Lackiererei wurden vorübergehend als Heuschrecken-Kluft zweckentfremdet. Damit soll in der Öffentlichkeit das Gebaren des bisherigen Eigentümers Lone Star dargestellt werden. Aus einem Gespräch mit Lone-Star-Repräsentanten brachten Betriebsräte und Gewerkschafter den Eindruck „unnahbarer, eiskalter Betonköpfe“ mit, die sich aus der Marktbereinigung und Konzentration der Fahrradproduktion auf die gewerkschaftsfreie Zone in Sangerhausen höhere Renditen versprechen.

MIFA steht für Mitteldeutsche Fahrradwerke. Nachdem Lone Star 25 Prozent der Anteile an MIFA übernommen hat, soll die Fahrradproduktion ganz auf Sangerhausen konzentriert werden. In Neukirch (Sachsen) hatte Lone Star die Fahrradproduktion schon Ende 2006 eingestellt. Ein handfester Grund liegt sicherlich darin, dass es bei MIFA für die über 400 Beschäftigten bisher weder einen Betriebsrat noch eine gewerkschaftliche Verankerung noch einen Tarifvertrag gibt. Alle Ansätze zur Einrichtung einer betrieblichen Interessenvertretung wurden von der Geschäftsleitung konsequent abgewürgt, Initiatoren „wurden gegangen“, erklärt Astrid Schwarz-Zaplinski von der IG Metall-Verwaltungsstelle Nordhausen.

Die Einkommen und Arbeitsbedingungen sind bei MIFA deutlich schlechter als bisher bei Bike Systems. Ende Juni wollte das Bike Systems-Management etliche Belegschaftsangehörige unter Zeitdruck zwingen, sofort neue Arbeitsplätze zu wesentlich schlechteren Löhnen und Arbeitsbedingungen in Sangerhausen anzutreten. Doch nahezu alle durchschauten dieses Manöver, mit dem sie ihre Kündigungsfristen und Ansprüche aus einer langen Beschäftigungszeit zugunsten von unsicheren Einzelverträgen mit MIFA aufgegeben hätten und lehnten ab. „Nicht zur MIFA gehetzt, sondern die Fabrik besetzt“ lautet ihr Motto. Und: „Lieber Hunger gelitten als zur MIFA geschritten.“

Auch die Bike Systems-Belegschaft hat in der Vergangenheit Zugeständnisse gemacht, um angesichts wechselnder Eigentümer seit Anfang der 1990er Jahre und eines Insolvenzverfahrens vor sieben Jahren guten Willen zu demonstrieren und das Werk zu erhalten. „Lohnverzicht rettet keine Arbeitsplätze“, so die bittere Erkenntnis der Betriebsratsvorsitzenden Heidi Kirchner. Wie die meisten anderen ist auch sie in der IG Metall organisiert und stützt sich im aktuellen Konflikt auf tatkräftige gewerkschaftliche Hilfestellung. Trotz einzelner Zugeständnisse bestand bei Bike Systems bislang noch Bezug zu gültigen Flächentarifverträgen mit der IG Metall. „Dass Einigkeit stark macht, das zeigen wir hier“, erklärt die Betriebsrätin.

Abwanderung und industrieller Niedergang

Der industrielle Niedergang seit 1990 hat Nord-Thüringen arg zugesetzt. Zeitweilig machte die Region mit der höchsten registrierten Arbeitslosigkeit der Republik traurige Schlagzeilen. Wohnungen, die noch vor 20 oder 30 Jahren heiß begehrt waren, stehen jetzt leer und werden abgerissen. Tag für Tag wandern 50 Personen aus Thüringen aus, erklärt Ulrich Hannemann vom DGB in Erfurt. Die Frauen und Männer bei Bike Systems wissen, was diese dürren Zahlen aus der Statistik bedeuten.

So kennt Carola Brückner (58), die ihre berufliche Laufbahn auf dem Werksgelände mit einer Motorenschlosser-Lehre begonnen hatte, viele Nordhäuser, die sich durch Umzug Richtung Westen über Wasser halten. Ihren Partner, der früher im Kali-Bergbau unter Tage arbeitete und der jetzt in den Niederlanden in Lohn und Brot steht, sieht sie nur noch am Wochenende. Sie hat ein Leben lang gerne gearbeitet und sieht ein schwarzes Loch vor sich, wenn die Arbeitsplätze für immer verschwinden sollten. Die Arbeiterin erinnert sich, wie Anfang der 1990er Jahre im IFA-Motorenwerk über Nacht die Maschinen verschwanden und mehrere tausend auf der Straße standen und will durch ihr Engagement den endgültigen Todesstoß für die verbliebenen Arbeitsplätze verhindern.

„Man will arbeiten und wird daran gehindert“, beklagt auch Helga Ropte (57). Sie hängt an dem Werksgelände, in dem sie 1968 ihre Ausbildung als Facharbeiterin für Qualitätskontrolle begann, während sie gleichzeitig noch die Humboldt-Oberschule besuchte. 1986 gehörte sie zu den Pionieren der Nordhäuser Fahrradproduktion. Das Betriebsgelände ist seit knapp 40 Jahren ihr Lebensmittelpunkt. Weil Arbeit zum Leben gehört, will sie bis zuletzt durchhalten. Ebenso ihr Kollege Erwin Jödicke, der sich keine Chance auf einen gleichwertigen Ersatzarbeitsplatz ausrechnet, weil nur wenige neue Betriebe in der Region ansiedeln und – wie ein neu errichtetes Kartonagenwerk meistens ganz schnell ihre Belegschaften zusammen haben.

Marion Pflug (48) hat erlebt, wie Familienangehörige in alle Himmelsrichtungen weggezogen sind und kennt viele Menschen, die als Pendler tagtäglich weite Anfahrtswege bis Göttingen oder Kassel in Kauf nehmen. Wie die anderen auch will sie bis zur Rente durcharbeiten und hat sich daher schon einmal bei der Agentur für Arbeit nach einer Umschulung erkundigt. Das sei „in diesem Alter aussichtslos“, hat ihr allerdings die zuständige Sachbearbeiterin signalisiert.
Bei solchen Aussichten klammern sich alle an das Werk und wollen nichts unversucht lassen, um einen neuen Investor an Land zu ziehen, der den Betrieb „mit Kompetenz und Intelligenz“ weiter führt. Helfen sollte dabei die Politik. Doch die Thüringer CDU-Landesregierung macht sich in diesem Konflikt rar. Zwar sind Ministerpräsident Dieter Althaus, sein Wirtschaftsminister und sein Sozialminister in der Gegend zu Hause und könnten mühelos auf einen Abstecher vorbeikommen und den Arbeitern ins Gesicht blicken. Doch nur der Wirtschaftsminister traf sich zu Beginn des Konflikts einmal unter Ausschluss der Betriebsöffentlichkeit mit Vertretern von Geschäftsführung und Betriebsrat. Der Ministerpräsident habe außer Hinweisen darauf, dass er als Politiker nicht helfen könne, und außer Warnungen vor einer Offensive chinesischer Fahrradproduzenten auf dem deutschen Markt nichts unternommen, um auf eine Weiterführung der Produktion hinzuwirken, kritisiert die Belegschaft. Dementsprechend sauer sind sie auf Regierungschef Althaus. „Keine Wahlen – kein Interesse. Danke, Herr Althaus“, bringt es das am Tor aufgespannte Transparent auf den Punkt.

Wesentlich konkreter ist da schon die Rückendeckung durch die örtliche Bevölkerung. Gegen Kälte hilft Brennholz, hat sich ein älteres Ehepaar gedacht und daher eine Menge zerschnittener Baumstämme und Äste vorbeigebracht. Solidarität von draußen macht Mut und ist überlebenswichtig. Auch wenn es „nur“ aufmunternde Briefe und 6000 Unterschriften sind, die bisher gesammelt wurden. Lateinamerika, wo die Bewegung besetzter Betriebe sich schon kontinental vernetzt hat, lässt grüßen: Zapatistischen Kaffee aus Mexikos Süden hat das selbstverwaltete Hamburger Café Libertad besorgt.

Solidarität ist keine Einbahnstraße

Solidarität ist keine Einbahnstraße, wissen die Besetzer. Als nächste Aktion wollen sie sich mit einer „Gulaschkanone“ bei der örtlichen Bevölkerung für den Zuspruch bedanken. Auch bei der Nordhäuser Tafel haben sie schon mal tatkräftig mit zugepackt – nach dem Motto: „Den Hunger vertreiben! Nicht die Arbeit!!“ Und damit die Jugend sieht, wie nützlich der Erhalt der Nordhäuser Radproduktion für sie ist, sind Mechaniker aus dem besetzten Werk ausgeschwärmt und haben in verschiedenen Schulen Räder und Roller der Kinder repariert.

Was beim laufenden Insolvenzverfahren herauskommt und ob sich andere Lösungen auftun könnten, ist unklar. „Eine Insolvenz bedeutet nicht, dass alles vorbei und verloren ist. Wir setzen unsere Hoffnungen auf einen kompetenten Insolvenzverwalter. Gleichzeitig hören wir nicht mit unserem Protest auf“, heißt es in einem Flugblatt. Als letztes stirbt die Hoffnung.

Und wenn sich kein privater Investor für das aufmüpfige Nordhäuser Kollektiv erwärmen sollte und die Politik weiter kneift? Dann will es die Belegschaft trotzdem wissen und versuchen, den Betrieb in Selbstverwaltung weiterzuführen. Hierzu hat sie den Verein „Bikes in Nordhausen e.V.“ gegründet. Kommen bundesweit mindestens 1800 Bestellungen für das „City Strike Bike“ zusammen, dann läuft ab 22. Oktober – zunächst für eine Woche – die Produktion im Werk wieder an. Das Experiment mit der Produktion in Eigenregie wurde zusammen mit dem Solidaritätskreis „Strike-Bike“ der FAU (Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter Union) entwickelt. Auf der Website www.strike-bike.de können Einzelbesteller das Solidaritäts-Rad online ab sofort für 275 €, Händler für 200 € bestellen.



Solidarität hilft und ist erwünscht!

Solidaritätsbotschaften an
FAX 03631-622146 oder 622170
Tel. 03631-622131 oder 622124
Freiherr-vom-Stein-Straße 31
99734 Nordhausen
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www.strike-bike.de
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