Kategorie: DIE LINKE

Sozialisten im Parlament: Was soll eine Linksfraktion im Bundestag bewirken?

Was wäre wenn – die Linkspartei bei der übernächsten Bundestagswahl die absolute Mehrheit bekäme? Unser Szenario –ein phantasievoller, aber nicht ganz aus der Luft gegriffener Blick in die Zukunft – soll verdeutlichen, was für ein Potenzial in der Linkspartei steckt, wenn sie eine konsequente antikapitalistische Linie verfolgt und den Machtkampf mit den Eliten entschlossen aufnimmt.

Stell Dir vor: Bei der Bundestagswahl am 18. September verfehlt Schwarz/Gelb die Mehrheit. Es wäre das dritte Mal in Folge, dass die klassischen bürgerlichen Parteien keine Mehrheit gewinnen. Denn vor 1998, also fast 50 Jahre lang, gab es bei Bundestagswahlen immer eine Mehrheit von CDU/CSU und FDP.

Was wäre wenn?

Da weder Schwarz/Gelb noch SPD und Grüne eine Mehrheit bilden können, ist eine “Große Koalition” die Folge. Die mit über 70 Abgeordneten im Bundestag vertretene Linkspartei bekommt als die stärkste Oppositionspartei weiter Zulauf. Die Angriffe auf soziale Standards und Errungenschaften der Arbeiterbewegung gehen weiter. Daran ändert auch die Ernennung mehrerer prominenter Gewerkschafter aus dem rechten sozialdemokratischen Lager zu Staatssekretären im Wirtschafts-, Gesundheits- und Verkehrsministerium nichts. Die Folge ist eine Zerreißprobe im DGB: Mehrere DGB-Landesbezirke, IG Metall, ver.di und IG BAU sowie Teile der NGG rufen für Juni 2006 zu einem „Marsch auf Berlin“ auf und immerhin 800.000 Menschen kommen. Andere, eher auf den SPD-Apparat fixierte Gewerkschaftsapparate distanzieren sich von der Demonstration und organisieren für den selben Tag Informationsveranstaltungen mit Regierungsvertretern zum Thema „Reformen mit Augenmaß“. Diese offenkundige Distanzierung von der zentralen Protestaktion hat aber auch eine Krise in diesen gemäßigten Gewerkschaften zur Folge, in denen ein zunehmender Teil der Basis den Schmusekurs mit der Regierung nicht mehr mitmachen will.
Als Hauptredner beim „Marsch auf Berlin“ (neben Frank Bsirske und Jürgen Peters) ruft Oskar Lafontaine die deutschen Gewerkschaften zu einem Generalstreik gegen die “arbeiterfeindliche Regierung Merkel-Müntefering” auf. Aber anders als Lafontaines Aufruf zum Generalstreik gegen atomare Mittelstreckenraketen im Jahre 1983 findet dieser Aufruf ein starkes Echo und schlägt sich im Oktober 2006 im ersten Generalstreik Deutschlands seit 56 Jahren nieder. “Wir müssen unsere Reformen noch besser erklären”, kommentiert Vizekanzler Müntefering den vierstündigen Ausstand, an dem sich immerhin sechs Millionen abhängig Beschäftigte aktiv beteiligen. Viele Behörden und Firmen, die nicht offiziell bestreikt werden, beklagen den ausgerechnet an diesem Tag mit über 25 Prozent besonders hohen Krankenstand bei Arbeitern, Angestellten und Beamten.
Die Stimmung im Lande wird Anfang 2007 zusätzlich angeheizt und polarisiert durch eine hereinbrechende Rezession in der Weltwirtschaft. Amerikanische Rückzugsgefechte in Irak und die gescheiterte US-Invasion in Venezuela wecken Erinnerungen an Vietnam und das fehlgeschlagene Abenteuer in der kubanischen Schweinebucht. Die Bush-Administration ist auch innenpolitisch schwer angeschlagen.
Während die Arbeitslosigkeit in Deutschland 2007 offiziell auf sieben Millionen ansteigt, die Zahl der “working poor” die fünf Millionen überschritten hat und acht Millionen Rentner durch weitere Belastungen und Kürzungen auf das Armutsniveau herabgedrückt wurden, fällt den als „Traumpaar“ im Kabinett Merkel bezeichneten Ministern Eichel (Finanzen) und Stoiber (Wirtschaft und Arbeit) nach wie vor nichts anderes ein als das Ziel “ausgeglichener Haushalte” anzustreben und den Deutschen eine “Rosskur” Brüningscher Dimensionen zu verordnen. Kritische Ärzte warnen vor einer durch die “Gesundheitsreform 4” und “Hartz 9” ausgelösten breiten Verarmung, die eine radikale Senkung der Volksgesundheit und der durchschnittlichen Lebenserwartung zur Folge habe.
Vor diesem Hintergrund kommt es im Frühjahr 2008 zu einer tief greifenden Spaltung der SPD. Der AfA-Vorsitzende Ottmar Schreiner und weitere 23 Bundestagsabgeordnete der SPD erklären ihren Austritt, nachdem Parteichef Müntefering nur unter Androhung seines Rücktritts eine peinliche Abstimmungsniederlage beim SPD-Parteitag verhindern konnte. Dieser Austritt und Übertritt der 23 zur Linkspartei ändert zunächst nichts an der fetten Zwei-Drittel-Mehrheit der (in der Wählergunst immer weiter schrumpfenden) “Großen Koalition”, doch in Meinungsumfragen steigt der Stern der Linkspartei stetig.
“Deutschland steht ein Schicksalsjahr bevor”, erklärt Bundespräsident Köhler in seiner Weihnachtsansprache 2008. In den Monaten vor der Bundestagswahl im September 2009 erheben fast alle Vertreter des etablierten Deutschland ihre Stimme gegen einen möglichen Wahlsieg der Linkspartei. Papst Benedikt XVI alias Josef Ratzinger aus Marktl am Inn, deutlich gealtert, warnt vor einem drohenden „Untergang des christlichen Abendlandes“ und droht allen katholischen Sympathisanten der Linkspartei mit Exkommunizierung. BDI und BDA drohen mit Kapitalflucht und Betriebsverlagerungen. Uli Wickert in den Tagesthemen und Heiner Bremer im RTL-Nachtjournal prophezeien ebenso wie die Leitartikler in “Welt” und “FAZ” das „jähe Ende der 60 jährigen Erfolgsstory” BRD.
Unions-Kanzlerkandidat Roland Koch tritt mit der Parole “Freiheit statt Sozialismus und Bolschewismus” an. Für den Fall eines Wahlsiegs der Linkspartei prophezeit er “die letzten freien Wahlen in Deutschland”. Kanzlerin Merkel, die diese Parole als “ in den neuen Bundesländern nicht zweckdienlich” ablehnt hatte, war im Mai 2009 in das Amt einer Bundespräsidentin “weggelobt” worden.
Sprecher der Linkspartei beteuern indes, dass sie doch „gar nicht wirtschaftsfeindlich“ seien, sondern nur einen Mindestlohn einführen und das Niveau von Steuern und Sozialleistungen wieder auf die Werte von Mitte der 90er Jahre, also der Regierungszeit unter Helmut Kohl, zurückbringen wollen. Demgegenüber betonen führende Vertreter der Wirtschaft, nicht einzelne besonnene Köpfe an der Spitze der Linkspartei seien das Problem, sondern das von einem Wahlsieg der Linkspartei ausgehende „Signal an den roten Mob“, den Gysi und Lafontaine offensichtlich nicht mehr unter Kontrolle hätten.
Der Wahlkampf im Sommer 2009 bringt eine – seit Weimarer Zeiten nicht mehr gekannte – Polarisierung und Mobilisierung. Menschen, die seit Jahren eine Existenz am Rande der Gesellschaft fristen und seit Ewigkeiten nicht mehr gewählt haben, wollen diesmal links wählen und erhoffen sich davon ein “würdigeres Leben vor dem Tode”.
Obwohl die Vorsitzenden von IG BCE, Transnet und Polizeigewerkschaft eindringlich vor einem Wahlsieg der Linkspartei warnen und ein Ende der “guten alten Sozialpartnerschaft” befürchten, finden Redner der Linkspartei auch in Betriebsversammlungen und regionalen Gewerkschaftsveranstaltungen viel Zustimmung. In der heißen Wahlkampfphase, begleitet von einem für deutsche Verhältnisse extrem heißen und trockenen Sommer, kommt es zu Handgemengen und Tätlichkeiten zwischen Kochs “Schutzbrigade Alfred Dregger” (einer mit Gaspistolen und Schlagstöcken ausgerüsteten Schlägertruppe, für die auch ehemalige NPD-Kader angeheuert wurden) und aufgebrachten Erwerbslosen und linken Jugendlichen. Die “junge Welt” enthüllt, dass BDI und branchenbezogene Unternehmerverbände im Verborgenen und in großem Stil Nazis anheuern und bewaffnete Ordnerdienste aufbauen, mit denen künftig Streiks und Betriebsbesetzungen bekämpft werden sollen. Da viele städtische Polizeieinheiten vom “linken Bazillus” angesteckt seien, bleibe den Unternehmern zur „Verteidigung der Freiheit“ keine andere Wahl, rechtfertigt ein BDI-Sprecher diesen nicht mehr zu bestreitenden Sachverhalt.
Die Bundestagswahl bringt der Linkspartei 312 von 602 Sitzen und damit eine klare Mehrheit. Dies löst umgehend einen Kurssturz an den Aktienbörsen und hektische Kapitalflucht bei fanatisierten Klein- und Mittelunternehmern aus. “Deutschland und die EU sind vom revolutionären lateinamerikanischen Virus befallen”, konstatiert der FAZ-Leitartikler.

Linke Regierung – und dann?

Ein erster Versuch, den Antritt der neuen Regierung durch Wahlanfechtung zu verhindern, scheitert. Mit herabhängenden Backen und sichtlich genervt überreicht die Bundespräsidentin dem neuen Linkskanzler die Ernennungsurkunde. “Lass sie auflaufen, wir verschleißen sie und kriegen sie über kurz oder lang zur Strecke”, hatte ihr Chefberater ihr zugeredet.
Die neue Regierung, von dem reaktionären Trommelfeuer der meisten Medien und der Kapitalflucht sichtlich schockiert, schlägt gegenüber der Wirtschaft versöhnliche Töne an und beteuert, mit ihren sozialen Maßnahmen doch nur “ein Stück Gerechtigkeit” wiederherstellen zu wollen. Doch der Gesetzesentwurf für 10 Euro Mindestlohn stößt im Unternehmerlager auf erbitterten Widerstand und wird dort als “absolut leistungsfeindlich” abgelehnt. Während die Regierung Kompromissbereitschaft zeigt, wird die Arbeiterbasis unruhig und fordert Taten. “Wir haben Jahrzehnte lang nur geopfert, jetzt ist Schluss”, sagen viele. Es kommt zur spontanen Besetzung von Betrieben, die von Kapitalflucht und Verlagerung bedroht sind. Belegschaften nehmen die Produktion in die eigene Hand und setzen abgehobene Manager ab und vor die Tür. ver.di-Vorsitzender Frank Bsirske und der IG Metall-Vorsitzende Berthold Huber distanzieren sich von dieser Bewegung, die sie als „individualistischen und isolierten Betriebssyndikalismus“ abtun.
Die Verbitterung und Unruhe in der arbeitenden Bevölkerung nimmt zu. In der Regierung brechen Richtungskämpfe aus. Der parteilose Gesundheitsminister Horst Seehofer tritt zurück und warnt im Bayerischen Rundfunk vor einem Abgleiten in “Bolschewismus” und “Chaos”. Seehofer war als abtrünniger CSU-Dissident auf ausdrücklichen Wunsch von Klaus Ernst auf Platz 2 der bayerischen Landesliste gesetzt worden, um „bürgerliche Wähler anzusprechen“. Seine Aufnahme in das Linkskabinett war von Anfang an umstritten, zumal viele Gewerkschafter sich an seine Rolle im Kabinett Kohl in den 90ern erinnerten und ihn als “trojanisches Pferd” der Reaktion ansahen.
Unter dem Druck einer zunehmend kapitalismuskritischen Stimmung der Bevölkerung und mit Verweis auf die Grundgesetz-Artikel 14 und 15 fordert der Parteitag der Linkspartei von der Regierung die vollständige Rücknahme aller seit den 90er Jahren erfolgten Privatisierungen und die sofortige Überführung von Großkonzernen, Banken und Versicherungen in Gemeineigentum. Nur durch eine sofortige Verstaatlichung der Banken könne die Kapitalflucht gestoppt werden, heißt es in der Antragsbegründung. Ein weiterer Beschluss sieht die Einstellung aller staatlichen Zinszahlungen an private Banken und Kapitalbesitzer (mittlerweile über 90 Milliarden Euro jährlich allein im Bundeshaushalt) vor. Vergeblich hatten Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Lothar Bisky mit eindringlichen Worten diese Beschlussfassung zu verhindern versucht. „Lasst die Tassen im Schrank“, hatte Lafontaine den Delegierten zugerufen. „Nur über meine Leiche“ sei dieser „Schwachsinn“ umzusetzen, so Bisky.
Doch auch die offensichtliche Missachtung der eigenen Parteitagsbeschlüsse bringt der Linksregierung keine Atempause. Bei einer geheimen Unterredung im Bundeskanzleramt drängen ranghohe Vertreter von BDI und BDA auf einen sofortigen Kurswechsel der Regierung, die Entlassung mehrerer als „zu basisnah“ geltender Minister und Staatssekretäre, deren Ersetzung durch „parteilose Fachleute“ und die Aufgabe aller sozialpolitischen Zielsetzungen zugunsten eines strikten Austeritätskurses. Gerüchte über eine Verschwörung rechter Kreise in Bundeswehr und Bundesgrenzschutz, in die auch eine BDI-nahe „Augusto Pinochet-Stiftung“ verwickelt sein soll, lassen aufhorchen. Forderungen der Linkspartei-Basis, den rechten Sumpf trocken zu legen und alle mit Putschplänen sympathisierenden Bundeswehr- und Polizeiangehörigen in den Ruhestand zu versetzen, werden vom Regierungssprecher scharf zurückgewiesen. „Wir dürfen nicht die Reaktion provozieren“, hatte ihm auch Lothar Bisky beigepflichtet.

Aus der Luft gegriffen?

So weit die Fiktion. Oder auch nicht? Denn – Jahreszahlen oder Namen hin oder her – ganz aus der Luft gegriffen scheint ein solches Szenario nicht. Wie es letzten Endes ausgehen würde, ist offen. Sicher ist: Die herrschende Klasse hat Jahrzehnte lang von jedweder Regierung profitiert und wird sich mit Zähnen und Klauen gegen jeden Versuch wehren, ihr wieder etwas wegzunehmen oder gar ihre Vorherrschaft in Frage zu stellen. Unter solchen Umständen gelten demokratische Spielregelen nicht mehr. Selbst wenn eine überzeugende Parlamentsmehrheit etwas anderes wollte, würden sich die Herrschenden damit nicht zufrieden geben. Sie haben dafür genügend Stützen in dieser Gesellschaft:

Ihr Privateigentum an Produktionsmitteln und ihre Reichtümer und die historische Erfahrung damit, wie man alle Register zieht, um diese zu verteidigen. Die Mehrzahl der Medien und Wissenschaftler, tragende Institutionen wie die Kirche, “Experten” und allerlei “Berater” sind (gut bezahlte) Verteidiger dieses Systems und begleiten uns fast täglich mit ihren vorgefassten Meinungen, hinter denen handfeste Interessen stehen. Käme es zu einer Regierungsmehrheit, die der herrschenden Klasse absolut nicht passen würde, so hätte sie genügend (legale und illegale) Mittel in der Hand:

  1. Der Bundespräsident kann die Unterzeichnung von Gesetzen und damit ihre Verkündung im Bundesanzeiger verweigern oder verzögern.
  2. Der Bundesrat kann wichtige Gesetze stoppen oder bremsen und eine Krise auslösen.
  3. Das Bundesverfassungsgericht kann einzelne Gesetze für „verfassungswidrig“ erklären und deren Inkrafttreten stoppen.
  4. Der Staatsapparat wird letztlich nicht von einzelnen Ministern oder Staatssekretären gelenkt oder geführt, sondern von einem (überwiegend konservativen) Beamtenapparat, der sich loyal zu den herrschenden Zuständen und Kreisen verhält und in ihrem Sinne geschult und ausgebildet wurde.
  5. Letzten Endes hat jeder Staat eine Armee und andere bewaffnete Einheiten, die “notfalls” auch mit Gewalt (und auch illegal) die herrschenden Verhältnisse verteidigen und ein Blutbad anrichten würden. Und was die Geheimdienste betrifft: Selbst der frühere SPD-Minister und Abgeordnete Gerhard Jahn beklagte Ende der 80er Jahre als Mitglied der Parlamentarischen Kontrollkommission (PKK), dass die Gemeindienste undurchschaubar seien und keiner parlamentarischen Kontrolle unterworfen werden könnten. In den 70er Jahren gab es Enthüllungen über Verschwörungen und Putschpläne auch in NATO-Ländern wie Italien oder Großbritannien. In Chile putschte das Militär 1973 gegen die linke Regierung des Sozialisten Salvador Allende; viele reformistische Linke hatten bis zuletzt gehofft, dass das Militär „demokratische Spielregeln“ einhalten würde und bezahlten diesen Irrtum mit ihrem Leben.

 

Dass auch eine gemäßigte linke, reformistische Regierung durch Druck der Herrschenden in ihrem Eifer gebremst werden kann, zeigte sich mit der Regierung Willy Brandt Anfang der 70er Jahre ebenso wie in den Umständen, die im März 1999 zum Rücktritt Oskar Lafontaines als Bundesfinanzminister führten. Lafontaine war nie ein konsequenter Antikapitalist oder Sozialist, doch seine Versuche, das Kapital ein bisschen stärker zur Kasse zu bitten und zu kontrollieren, riefen heftigen Widerstand der Herrschenden hervor.

Was nun?

Die Linkspartei ist für viele ein Hoffnungsträger und ein Licht am Ende eines langen Tunnels. Wenn die Herausbildung einer starken Linksfraktion einen wirklichen Durchbruch bringen und nicht wieder im reformistischen Sande verlaufen oder im Sumpf einer Regierungsbeteiligung mit faulen Kompromissen enden soll, dann muss uns schon jetzt klar sein, wo die Reise hingehen soll. Wir müssen uns auf die unvermeidlichen Konflikte vorbereiten, den Menschen die Wahrheit sagen und sie mobilisieren.
Für WASG-Sprecher Klaus Ernst wäre schon jetzt eine Regierungsbeteiligung mit SPD und Grünen vorstellbar. Wer sich schon damit zufrieden gibt, dass eine Nach-Schröder-SPD in Worten ein bisschen nach links rückt, der ist allerdings billig zu kaufen und würde den Anpassungsprozess, für den die Grünen zehn Jahre gebraucht haben, in einem Jahr vollziehen.
Wenn die neue Linksfraktion keine klaren antikapitalistische Alternativen entwickelt und nur dazu dienen sollte, kleine Trostpflästerchen zu verteilen und Karriereplanungen einzelner zu fördern, dann blieben unsere Interessen schnell auf der Strecke. Die einzige Alternative: mit aller Kraft darauf hinarbeiten, dass die realen Machtverhältnisse geändert werden und der Kapitalismus überwunden wird. Unter solchen Zielsetzungen könnte eine starke Linksfraktion ein wichtiger Bezugspunkt für die Arbeiterbewegung und alle Unterprivilegierten in dieser Gesellschaft werden. Dazu ist es allerdings nötig, die Gefahren einer Anpassung an den bürgerlichen Parlamentarismus mit all seinen Gepflogenheiten und Sitten zu erkennen und gegenzusteuern.
Parlamentarier genießen in dieser Gesellschaft eine relativ privilegierte Position, Bekanntheit, Respekt, Zugang zu Information und vieles mehr. All dies müssen linke Parlamentarier voll und ganz in den Dienst der Bewegung stellen – als Teil der Bewegung und nicht als Mitglieder eines besser gestellten Clubs, die ab und zu gnädigerweise ein Herz für die “armen Schweine” zeigen. Parlamentsmandate sind ein Mittel zum Zweck und kein Selbstzweck für die persönliche Lebensplanung. Gerade linke Parlamentarier müssen die Begrenztheit ihrer Tätigkeit und Wichtigkeit erkennen und über die parlamentarischen Bahnen hinaus denken.
Vor knapp 100 Jahren zeigte Karl Liebknecht, zuerst preußischer Landtagsabgeordneter und dann Mitglied des Reichstags, wie man als revolutionärer Linker die Tribüne des Parlaments nutzen kann, ohne darin aufzugehen. Lenin – führender Vertreter des linken Flügels der russischen Soziademokratie vor dem 1. Weltkrieg (Bolschewiki)– war sich der Gefahren der Anpassung wie auch der Begrenztheit des Parlamentarismus bewusst. Ähnlich wie Liebknecht verstanden es auch Abgeordnete der Bolschewiki, die Tribüne des Parlaments für die Sache der Arbeiterklasse zu nutzen, ohne sich dem parlamentarischen Alltagstrott anzupassen. Lassen wir Lenin im O-Ton zu Wort kommen:
„Die bürgerliche Demokratie, die im Vergleich zum Mittelalter ein gewaltiger historischer Fortschritt ist, bleibt stets – und im Kapitalismus kann es gar nicht anders sein – eng, beschränkt, falsch und verlogen, ein Paradies für die Reichen, eine Falle und Betrug für die Ausgebeuteten. (…)
Es gibt keinen einzigen Staat, und sei es auch der demokratischste, wo es in der Verfassung nicht Hintertürchen und Klauseln gäbe, die der Bourgeoisie die Möglichkeit sichern, „bei Verstößen gegen die Ruhe und Ordnung“ – in Wirklichkeit aber, wenn die ausgebeutete Klasse gegen ihr Sklavendasein „verstößt“ und versucht, sich nicht mehr wie ein Sklave zu verhalten – Militär gegen die Arbeiter einzusetzen, den Belagerungszustand zu verhängen u.a.m. Kautsky beschönigt schamlos die bürgerliche Demokratie, indem er verschweigt, wie z.B. die demokratischsten und republikanischsten Bourgeois in Amerika oder der Schweiz gegen streikende Arbeiter vorgehen. (…)
Nehmen wir das bürgerliche Parlament. Ist es denkbar, dass der gelehrte Kautsky nie davon gehört hat, wie Börse und Bankiers sich die bürgerlichen Parlamente umso vollständiger unterwerfen, je stärker die Demokratie entwickelt ist.“ (…)
„Nehmen wir die Außenpolitik. In keinem, selbst nicht in dem demokratischsten bürgerlichen Lande wird sie offen betrieben. Überall werden die Massen getäuscht, im demokratischsten Frankreich, in der Schweiz, in Amerika, in England hundertmal mehr und raffinierter als in den anderen Ländern!
(Alle Zitate aus: Lenin, Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, 1920)

Auch in einem anderen Zusammenhang warnte Lenin vor allzu großen Illusionen in die Möglichkeiten, Institutionen des bürgerlichen Staates für die Arbeiterbewegung nutzbar zu machen und nannte schonungslos die Gefahren:

  1. “Der bürgerliche Staat gestattet Arbeitern und Sozialdemokraten den Zutritt zu seinen Institutionen, zu seiner Demokratie so und nur so, dass er
  2. sie durchsiebt und dabei die Revolutionäre aussiebt,
  3. sie gefügig macht und Beamte werden lässt (…),
  4. dass er sie durch Bestechung gewinnt: „’Ihr bildet sie aus, und wir werden sie kaufen’,
  5. außer grober Bestechung greift er zu raffinierter Bestechung, bis zur Schmeichelei,
  6. er ‚beschäftigt’ sie, überhäuft sie mit „Arbeit“, erstickt sie unter Bergen von „Papier“, in der muffigen Atmosphäre von ‚Reformen’ und ‚Reförmchen’,
  7. er demoralisiert sie durch die kleinbürgerliche Gemütlichkeit eines ‚kulturell’ erträglichen Philisterdaseins.“
(aus: Lenin, Marxismus und Staat)

 

Das Zentrum der Linkspartei darf nicht die Parlamentsfraktion sein, sondern eine in Betrieben, Gewerkschaften und anderen sozialen Bewegungen verankerte Parteiorganisation. Künftige soziale Proteste wie die Bewegung gegen Hartz IV vor einem Jahr verdienen die volle Unterstützung gerade der linken Parlamentarier und müssen im Parlament vertreten werden und ein Echo finden.
In der heutigen Zeit steht nicht mehr der Kampf um kleine Verbesserungen und tatsächliche Reformen an, sondern überall stehen Verschlechterungen auf der Tagesordnung. Das Parlament kann als Plattform und Tribüne dienen, um den Widerstand der Bevölkerung zu fördern und wichtige Aufklärungsarbeit zu leisten.

„Quasselbude“

Lenin bezeichnete das Parlament nicht ohne Grund als “Quasselbude”. Die meisten Parlamentarier geben sich als “feine Herrschaften” aus, doch sobald man etwas am Lack dieser “Elite unseres Volkes” kratzt oder etwas zu viel Alkohol über die Kehle gleitet oder die Herrschaften in Stress kommen, zeigt sich ihr wahres Wesen und eine Unmenge an Arroganz, primitivem Verhalten, Voreingenommenheit, Engstirnigkeit, Aberglauben, Rassismus, Sexismus und Käuflichkeit. Dies mit aufzudecken ist Aufgabe linker Parlamentarier.
Die allermeisten Gesetze werden nicht von Abgeordneten in mühsamer Kleinarbeit fabriziert, sondern überwiegend von der einflussreichen Lobby und ihren Sprechern wie Rürup, Hartz, Miegel, Peffekoven und anderen vorgegeben, von “Experten” und beamteten Juristen formuliert und von den Abgeordneten letztlich nur noch formal abgesegnet. Die Abgeordneten wissen in den allermeisten Fällen nicht, worüber sie im Einzelnen abgestimmt haben und kennen den Wortlaut und vor allem die Folgen der Gesetze nicht. Meistens sind auch nicht persönlich von den Folgen der Gesetze betroffen:
Da Parlamentarier nach wenigstens zwei Wahlperioden schon erträgliche Pensionsansprüche erwerben, für die andere fast ein Leben lang placken müssen, haben sie gut reden, wenn sie uns die Rentenerwartungen kürzen und gleichzeitig die Segnungen einer Privatrente („Riester-Rente“) preisen.
Als gut verdienende Privatpatienten kriegen es die meisten Parlamentarier und Regierungsbeamten auch nicht mit, was sie durch ihr Abnicken etwa von Gesetzespaketen zur „Gesundheitsreform“ aus der Regelleistung der gesetzlichen Krankenversicherung gestrichen und somit an Not angerichtet haben.

Damit linke Parlamentarier es sich in der gediegenen Atmosphäre des Parlaments nicht eben doch gemütlich einrichten und im o.g. Sinne „käuflich“ werden, sollten sie alles, was über einen durchschnittlichen Facharbeiterlohn hinausgeht, an die Parteikasse bzw. Solidaritätsprojekte der Bewegung abführen.
Die Forderung nach durchschnittlichem Arbeiterlohn für alle gewählten Funktionäre und jederzeitiger Abwählbarkeit aller Gewählten war übrigens schon für Lenin ein entscheidendes Merkmal einer sozialistischen Demokratie und ein Mittel gegen die zunehmende Bürokratisierung im jungen Sowjetstaat Anfang der 20er Jahre.
Damals suchten und fanden weltweit nicht nur Millionen Arbeiter, sondern auch Streber und Karrieristen in den gerade eben entstandenen Kommunistischen Parteien eine neue Heimat. Dies galt insbesondere auch für die Kommunistische Partei in der Sowjetunion, die die Staatsmacht erobert hatte und nunmehr zunehmend von Karrieristen und Opportunisten heimgesucht und für ihr eigenes Fortkommen missbraucht und in Beschlag genommen wurde. Lenins letzte Briefe und Artikel sind ein beredter Ausdruck dieser Sorgen und seines Widerstandes gegen die zunehmende Bürokratisierung von Partei und Staatsapparat und Entfremdung von der Arbeiterklasse.
Die 1919 gegründete Kommunistische Internationale (Komintern) setzte Maßstäbe für konsequente revolutionäre Arbeit in Parlamenten auf allen Ebenen. Hier Auszüge aus den Beschlüssen des Zweiten Weltkongresses der Komintern 1920:
„Diese Tätigkeit im Parlament, die hauptsächlich in revolutionärer Agitation von der Parlamentstribüne, in der Entlarvung der Gegner, im geistigen Zusammenschluss der Massen, die noch immer (…) nach der Parlamentstribüne schauen, besteht, soll ganz und gar den Zielen und Aufgaben des Massenkampfes außerhalb des Parlaments untergeordnet sein. (…)
Die Kommunistische Partei muss mit der alten sozialdemokratischen Tradition brechen, ausschließlich sogenannte „erfahrene Parlamentarier“, vorwiegend Rechtsanwälte und dergl., als Abgeordnete aufzustellen. In der Regel ist es notwendig, Arbeiter als Kandidaten aufzustellen, ohne sich daran zu stoßen, dass diese meist einfache Parteimitglieder ohne große parlamentarische Erfahrung sind. Diejenigen Streberelemente, die sich an die Kommunistische Partei heranmachen, um ins Parlament zu gelangen, muss die Kommunistische Partei rücksichtslos brandmarken. (…)
Alle ihre parlamentarischen Aktionen müssen die kommunistischen Abgeordneten der Tätigkeit ihrer Partei außerhalb des Parlaments unterordnen. Die regelmäßige Einbringung von demonstrativen Gesetzentwürfen, die nicht dazu bestimmt sind, von der bürgerlichen Mehrheit angenommen zu werden, sondern für die Zwecke der Propaganda, Agitation und Organisation. (…)
Bei Straßendemonstrationen der Arbeiter und sonstiger revolutionärer Aktion hat der kommunistische Abgeordnete die Pflicht, an der Spitze der Arbeitermassen an erster leitender Stelle zu stehen. (…)
Jeder kommunistische Abgeordnete des Parlaments muss dessen eingedenk sein, dass er kein Gesetzgeber ist, der mit anderen Gesetzgebern eine Verständigung sucht, sondern ein Agitator der Partei, der ins feindliche Lager entsandt ist, um dort Parteibeschlüssen nachzukommen. (…)
Die kommunistischen Abgeordneten müssen im Parlament eine Sprache reden, die jedem einfachen Arbeiter, jedem Bauern, jeder Waschfrau, jedem Hirten verständlich ist, so, dass die Partei die Möglichkeit hat, die Reden als Flugblätter herauszugeben und sie in den entlegensten Winkeln des Landes zu verbreiten. (…)
Einfache kommunistische Arbeiter müssen in den bürgerlichen Parlamenten auftreten, ohne den sogenannten erfahrenen Parlamentariern den Vorrang zu überlassen.“

Opposition ist kein Selbstzweck. Für eine linke Mehrheit!

Wenn wir uns mittelfristig nur mit der Rolle als „kritische Mahner“ gegen den Zeitgeist zufrieden geben, werden wir wieder viel verlieren. Arbeitnehmer, Arbeitslose und Jugendliche erwarten, dass sich nicht erst in unabsehbarer Zukunft – am St. Nimmerleinstag – vieles ändert in diesem Land. Sie erwarten keine Phrasen, sondern Taten. Deshalb müssen wir mittelfristig solide Mehrheiten – möglichst auch Parlamentsmehrheiten – gegen den heutigen Mainstream und für eine radikale Gesellschaftsveränderung zustande bringen. Anstatt – wie Grüne und PDS in der Vergangenheit – „Regierungsfähigkeit“ anzustreben und uns als kleiner Koalitionspartner einer wieder wortradikal auftretenden SPD-Führung anzubiedern, müssen wir mit freundlichem Ton und geduldigem Argumentieren um die Mehrheit der Basis von SPD und Gewerkschaften und vor allem um die aktive Unterstützung von Millionen Unorganisierten werben. Ohne diese Mehrheit ist eine radikale Gesellschaftsveränderung nicht möglich. Wir wollen aus der linken Nische herauskommen, linke Mehrheiten gewinnen und eine radikale Veränderung der Machtverhältnisse tatsächlich durchsetzen!
Eine „Tolerierung“ einer Regierung aus SPD und Grünen durch die Linkspartei wäre überhaupt nur vorstellbar, wenn SPD und Grüne sich die wesentlichen Programmpunkte der Linkspartei zu eigen und die mit Agenda 2010 und Hartz IV eingeleiteten Angriffe auf unsere Interessen wieder rückgängig machen würden. Aber selbst bei einer solchen Tolerierung müsste sich die Linkspartei unbedingt jederzeit das Recht herausnehmen, eine solche Regierung scharf zu kritisieren und ihre eigenen Alternativen herauszustellen. Auf jeden Fall müsste die SPD-Spitze Farbe bekennen: Will sie endlich einen linken Kurswechsel im Interesse der arbeitenden Bevölkerung oder will sie ihre bisherige Politik in einer „Großen Koalition“ fortsetzen? Somit könnten wir der SPD-Basis deutlich machen, dass nicht die Linkspartei, sondern Schröder und Co. Steigbügelhalter einer CDU-geführten Regierung sind. Damit könnte die Linkspartei ihre Position weiter stärken und ausbauen. Wenn sie sich hingegen opportunistisch anpasst, dann wird dies – wie Erfahrungen mit Linksparteien in Spanien, Italien oder Frankreich zeigen – ihre Position schwächen. Denn wenn es die Wähler mit mehreren sozialdemokratischen Parteien zu tun haben, zwischen denen kein grundlegender politischer Unterschied besteht, dann wird die Mehrheit immer zur stärkeren Partei tendieren.
Daher: Kein Schmusekurs mit dem SPD-Apparat und keine Preisgabe der eigenen Ziele, aber dafür umso mehr konkrete Angebote an die SPD-Anhängerschaft zur Bildung einer „Einheitsfront“ von unten.

Was mit einer solchen Einheitsfront bezweckt wird, brachte Trotzki 1932 auf den Punkt:
„Die Einheitsfront hat zur Aufgabe, jene, die kämpfen wollen, abzusondern von jenen, die es nicht wollen, jene vorwärts zu stoßen, die schwanken, schließlich die kapitulantenhaften Führer in den Augen der Arbeiter zu kompromittieren und so die Kampffähigkeit der Arbeiter zu stärken.“
(Leo Trotzki, Der einzige Weg, 1932)

Hans-Gerd Öfinger
27. Aug. 2005

Anhang:
Im Wortlaut:
Was tun in Kommunalparlamenten und Rathäusern?

Falls Kommunisten die Mehrheit in Kommunaleinrichtungen haben, so sollen sie

  1. revolutionäre Opposition gegen die bürgerliche Zentralgewalt treiben;
  2. alles tun, um der ärmeren Bevölkerung Dienste zu leisten (wirtschaftliche Maßnahmen, Durchführung oder Versuche der Durchführung der bewaffneten Arbeitermiliz usw.);
  3. bei jeder Gelegenheit die Schranken aufzeigen, die die bürgerliche Staatsgewalt wirklich großen Veränderungen entgegensetzt;
  4. auf dieser Grundlage schärfste revolutionäre Propaganda entwickeln, ohne den Konflikt mit der Staatsgewalt zu fürchten;
  5. unter gewissen Bedingungen die Gemeindeverwaltungen usw. durch lokale Arbeiterräte ersetzen.
Die ganze Tätigkeit der Kommunisten in der Kommunalverwaltung muss als ein Bestandteil der allgemeinen Zersetzungsarbeit des kapitalistischen Systems betrachtet werden. Die Wahlkampagne selbst soll nicht im Geiste der Jagd auf eine Höchstzahl von Parlamentsmandaten geführt werden, sondern im Geiste revolutionärer Mobilisierung der Massen für die Losung der proletarischen Revolution. Die Wahlkampagne soll von der gesamten Masse der Parteimitglieder geführt werden und nicht nur von der Elite der Partei. Es ist notwendig, dabei alle Massenaktionen, die gerade stattfinden, auszunutzen und mit ihnen in enge Fühlung zu kommen. Das Heranziehen aller proletarischen Massenorganisationen zur aktiven Tätigkeit ist notwendig.
(Beschluss des II.Weltkongresses der Kommunistischen Internationale 1920, Leitsätze über die Kommunistischen Parteien und den Parlamentarismus)

 

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