Das menschliche Gehirn tickt für gewöhnlich eher etwas konservativ. Es braucht Schocks, verursacht durch die sozialen Bedingungen der eigenen Existenz, damit sich daran etwas ändert. Wenigstens in Gesellschaften mit relativ hohem Wohlstandniveau ist das so. Solange man irgendwie das Gefühl hat bzw. es wenigstens etwas glaubhaft vermittelt bekommt, dass es ruhige Wege zur Überwindung von Problemen gibt, ist „Otto Normalverbraucher“ geneigt, sein Vertrauen den gesellschaftlichen Kräften entgegenzubringen, die dieses Gefühl als „ihre Sache“ verkaufen können.
„Dahinter steckt immer ein kluger Kopf“, lautet ein alter Werbespruch der FAZ. Was mag dieser „kluge Kopf“ wohl beabsichtigt haben, als er FAZ-Redakteur Volker Zastrow den Auftrag gab, den hessischen SPD-Spitzenkandidaten Thorsten Schäfer-Gümbel in die linksradikale Ecke zu stellen, weil er vor Jahren einmal einen Aufruf der Kampagne „Hände weg von Venezuela“ (Hands off Venezuela – HOV) unterschrieben hat?
Rechter SPD-Flügel stützt Ministerpräsident Koch. Nach nur sieben Monaten wird sich am Mittwoch der Hessische Landtag selbst auflösen. Im Januar soll das Parlament neu gewählt werden. Wie kam es dazu? Wer sind die Gewinner und Verlierer?
Während führende hessische Sozialdemokraten nach dem Scheitern der für letzten Dienstag vorgesehenen Abwahl des amtierenden Ministerpräsidenten Roland Koch weiter die Wunden lecken, wird zunehmend klar, dass die SPD-Landesvorsitzende Andrea Ypsilanti Opfer einer politischen Intrige geworden ist, an der maßgebliche rechte Sozialdemokraten beteiligt waren.
Einen Tag nach dem politischen Erdbeben, das eine „Viererbande“ in der SPD-Landtagsfraktion am Montag mit ihrem Ausscheren aus der Fraktionsdisziplin ausgelöst hatte, haben am Dienstag in der hessischen Landeshaupt- stadt Wiesbaden erste politische Aufräumarbeiten begonnen. Der Ruf nach Neuwahlen wird lauter; die hierfür erforderliche Mehrheit zur Landtagsauflösung könnte nun zustande kommen, nachdem neben CDU und FDP nun auch die Grünen dafür sind. Die nächste Plenar- sitzung ist am 18. November. So ist ein erneuter Winter- wahlkampf im Hessenland möglich geworden.
Die vier SPD-Rechtsabweichler hatten sich für ihren Medienauftritt das nobelste Fünf-Sterne-Hotel am Ort ausgesucht, das Wiesbadener Dorint Pallas Hotel. Wo schon die EU-Verteidigungsminister tagten und 1963 US-Präsident John F. Kennedy nächtigte, ließen die Abgeordneten Dagmar Metzger, Jürgen Walter, Silke Tesch und Carmen Everts am Montagnachmittag die politische Bombe hochgehen und besiegelten damit weit mehr als das Ende eines „hessischen Experiments“ und ein Ende der Hoffnungen auf einen Regierungswechsel.
Es sollte ein Parteitag des „Aufbruchs zur sozialen Demokratie“ und der „Geschlossenheit“ werden. Ein Jahr vor der Bundestagswahl wollte die SPD beim Sonderparteitag am 18. Oktober in Berlin sich selbst und aller Welt demonstrieren, wie sie mit dem „neuen“ (alten) Personal an der Spitze durchstartet.
Begriffe wie Erdrutsch, Erdbeben und Zeitenwende waren am Wahlabend in aller Munde. Das kommt nicht von ungefähr. Herausragendes Ergebnis bei der Bayernwahl am 28. September 2008 war zweifellos der Absturz der CSU.
Nach massiven öffentlichen Protesten, denen sich zuletzt auch die Bundesregierung anschloss, hat der Vorstand der Deutschen Bahn AG am 12. September einen Rückzieher gemacht und auf die Einführung eines geplanten „Bedienzuschlags“ in Höhe von 2,50 Euro pro Fahrkarte verzichtet. Bild: Bahnchef Mehdorn.
Ein entnervter Kurt Beck hat am vergangenen Sonntag als SPD-Chef das Handtuch geworfen. Dass Franz Müntefering von diesem Rücktritt „völlig überrascht“ worden sei und sogleich „spontan“ zusagte, wieder den Parteivorsitz zu übernehmen, das mag glauben, wer will. Wer die Medienkampagne der letzten Monate gegen Kurt Beck verfolgte und mit ansah, wie dieser systematisch schlechtgeredet und zur Unperson gemacht wurde, der wird den Eindruck nicht los, dass Beck systematisch weggemobbt wurde. Dass der 69jährige Franz Müntefering jetzt plötzlich wieder zum Retter aus der Not hochstilisiert wurde, zeigt, wie groß die Not im SPD-Apparat sein muss. Und mit Frank-Walter Steinmeier bekommt die SPD einen Kanzlerkandidaten, dessen Aufstieg stets von Schröders Gnaden war und der sich noch nie innerparteilich durchsetzen und behaupten musste. Foto: Franz Müntefering.